Die Stein-Strategie: Von der Kunst, nicht zu handeln (German Edition)
erfüllt sein, in denen wir nicht im Traum daran denken, von A zu sagen, dass er etwas unterlässt, z. B. wenn A gerade ohne Kontrolle über die eigenen Gliedmaßen einen steilen Abhang herunterrollt. Dass A unter diesen Bedingungen nicht handelt, ist nicht hinreichend, um von ihm zu sagen, dass er etwas unterlässt . Wäre esA – was in diesem Beispiel nicht notwendig der Fall sein muss – gänzlich unmöglich, sein Verhalten willentlich zu steuern, könnte man von ihm weder sagen, dass er handelt, noch, dass er etwas unterlässt. Wir können von A nur sagen, dass er etwas unterlässt, wenn er zum Handeln in der Lage ist.“ Auf den Punkt gebracht: „Nur der handelt, der auch nicht handeln könnte; nur der unterlässt etwas, der auch handeln könnte.“ Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, so Birnbachers Fazit nach knapp 400 Seiten, dann dürfte es eigentlich keinen Unterschied in der moralischen – oderjuristischen – Beurteilung von Tun und Unterlassen geben.
Dass es diesen doch gibt, so führt Birnbacher aus, lasse sich bereits am alltäglichen Sprachgebrauch ablesen: „Zweifellos ist die Tatsache, dass moralische Verurteilung oder moralische Belobigung durch eine ‚aktivische‘ Beschreibung mit zusätzlicher Emphase versehen werden können, ein Beleg für den Einfluss, den die gängige moralische Differenzierung zwischen aktivem Bewirken und Geschehenlassen im Alltagsdenken gewonnen hat.“ Warum es diese Differenzierung im Alltag doch gibt, ist eine diffizile Frage, die sich durch den erneuten Verweis auf einen gesellschaftlich-moralischen Action bias beantworten lässt. Wer aktiv handelt, kann damit rechnen, dass sein Handeln einer stärkeren moralischen Kritik unterzogen wird, als ein alternatives Nicht-Handeln – im Positiven wie im Negativen.
Das bewirkt in der Praxis – auch das sollte hier nicht verschwiegen werden – den „omission bias“. Diese „Neigung zur Unterlassung“ ist weniger das Gegenteil des Action bias als die dunkle Seite der Stein-Strategie: Einerseits halten wir es nicht aus, dass nichts geschieht. Andererseits wird tendenziell zu wenig unternommen, um absehbaren Schaden abzuwenden. Dies liegt zum einendaran, dass man nicht zur Rechenschaft gezogen wird, wenn man „den Dingen ihren natürlichen Lauf“ gelassen hat, zum anderen fehlt bei weit in der Zukunft liegenden Zielen die Motivation. Noch 1957 konnte Konrad Adenauer mit seinem erfolgreichen Wahlkampfslogan „Keine Experimente!“ darauf eincashen, dass die Bevölkerung den mittelmäßigen Status quo Sozialreformen mit ungewissem Ergebnis vorzog. Rolf Dobelli schreibt in seinen Denkfehlern : „Beim Omission Bias ist die Situation meistens übersichtlich: Ein zukünftiger Schaden könnte durch heutiges Handeln abgewendet werden, aber das Abwenden eines Schadens motiviert uns nicht so stark, wie es die Vernunftgeböte. Der Omission Bias ist sehr schwer zu erkennen – Verzicht auf Handlung ist weniger sichtbar als Handlung. Die 68er-Bewegung, das muss man ihr lassen, hat ihn durchschaut und mit einem prägnanten Slogan bekämpft: ‚Wenn du nicht Teil der Lösung bist, bist du Teil des Problems.‘“
So begünstigt die moralische Anprangerung des „omission bias“ – wer zu einem gesellschaftlichen Missstand schweigt und sich nicht aktiv einmischt, macht sich mitschuldig! – durch die Hintertür den Aktionismus: indem sie engagierte Symbolpolitik produziert. Der Kulturphilosoph Bazon Brock (übrigens ein großer Wegbereiter der Stein-Strategie und Erfinder einer „Ästhetik des Unterlassens“) hat diesen hohldrehenden Jargon moralischer Emphase auf die Schippe genommen, indem er ein schwarz-gelbes Baustellen-Warnschild prägen ließ mit der Aufschrift: „Der Tod muss abgeschafft werden, diese verdammte Schweinerei muss aufhören. Jeder, der ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter – Bazon Brock.“
Es bleibt dabei, dass der größte Handlungsbedarf beim Nicht-Handeln besteht. Dass der häufige Verzicht auf Handlung ein Desiderat bildet, dass die gesellschaftliche Forderung nach unbedingter Handlung Kollateralschäden und neue Bedürfnisse erzeugt, zeigt die Flut an Titeln aus den letzten Jahren, die Müßiggang und süßes Nichtstun zum Thema haben: Von Tom Hodgkinsons Anleitung zum Müßiggang und Nichts tun (Martin Frischknecht) über Vom Nichtstun (Eberhard Straub von Wijs), Die Kunst des Nichtstuns (Michael Harles), Muße . Vom Glück des Nichtstuns (Ulrich Schnabel)
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