Die Stein-Strategie: Von der Kunst, nicht zu handeln (German Edition)
noch immer ein wenig atemlos, ‚kommt man im allgemeinen woandershin, wenn man so schnell und so lange läuft wie wir eben.‘ ‚Behäbige Gegend!‘, sagte die Königin. ‚Hierzulande mußt du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst. Und um woandershin zu kommen, muss man noch mindestens doppelt so schnell laufen!‘“
Evolutionsbiologen sprechen vom „red queen effect“, um auszudrücken, dass Organismen sich ständig weiterentwickeln müssen, wenn sie ihre Stellung im Ökosystem verteidigen wollen. Evolutionär kommt es zwischen Räubern und Beute so zu einem regelrechten Wettrüsten.
Soziologen wie Richard Sennett, Zygmunt Bauman oder Hartmut Rosa erklären uns, dass wir alle längst in einem Wunderland leben, in dem man ständig die Beine in die Hand nehmen muss, um an derselben Stelle zu bleiben – und dass uns diese hektische Betriebsamkeit auf Dauer krank und kirre macht.
Angeleitet durch Paul Virilios Oxymoron vom „Rasenden Stillstand“ will Hartmut Rosa in einem großen Projekt an der Universität Jena entschlüsseln, wie die ständige Akzeleration im kapitalistischen System funktioniert und als Entfremdung auf die Psyche wirkt. Die durch Fortschritt gewonnene Zeit wird an anderer Stelle sofort wieder verausgabt. Um mit dem allgemeinen Change Schritt zu halten, erhöhen wir die Taktzahl. In seiner Habilitationsschrift Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne schreibt Rosa in einem Bandwurmsatz, für den man sich Zeit nehmen muss, dass an die Stelle des technisch machbaren „Zeitwohlstands“, mit dessen Versprechen die westliche Moderne einmal angetreten sei, „in der Realität westlicher Gesellschaften ein gravierender und sich verschärfender Zeitnotstand getreten ist; eine Zeitkrise, welche die herkömmlichen Formen individueller wie politischer Gestaltungsfähigkeit in Frage stellt und zu der verbreiteten Wahrnehmung einer gesellschaftlichen Krisenzeit geführt hat, in der sich paradoxerweise das Gefühl ausbreitet, hinter der permanenten dynamischen Umgestaltung sozialer, materieller und kultureller Strukturen in der ‚Beschleunigungsgesellschaft‘ verberge sich in Wahrheit ein tiefgreifender struktureller und kultureller Stillstand, eine fundamentale Erstarrung der Geschichte, in der sich nichts Wesentliches mehr ändert, wie schnell auch immer sich die Oberflächen wandelten.“
Es ist wie mit der gefühlten Temperatur, die kälter ist, wenn ein eisiger Wind bläst: Auch wenn das reale Wirtschaftswachstum und das Innovationstempo längst stagnieren, empfinden wir subjektiv einen beschleunigten Wandel, mit dem wir Schritt halten müssen, um nicht ins Hintertreffen zu geraten. Die gängigen Bilder für das allseitige Wettrüsten im Kapitalismus sind die des Hamsterrades und der Tretmühle.
Als neuer Unterzweig der Ökonomie und Sozialpsychologie ist die Glücksforschung angetreten, das scheinbare Paradox der Glücks-Tretmühle zu ergründen: Trotz wachsenden materiellen Wohlstands werden die Menschen subjektiv nicht glücklicher. Um diesen Befund politisch zu operationalisieren und alternative Wohlstandsindikatoren jenseits des Bruttoinlandsproduktes auszuloten, tagte von 2011 bis 2013 relativ ergebnislos die Enquetekommission des Bundestages „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“. In einem Gutachten für diese Enquete schreibt der Schweizer Ökonom Mathias Binswanger, der den Begriff „Tretmühle des Glücks“ geprägt hat: „Auf einer Tretmühle kann man immer schneller laufen und diese immer schneller bewegen, doch man bleibt immer am selben Ort. Genau gleich verhält es sich mit dem menschlichen Streben, durch mehr Einkommen glücklicher zu werden. Die Menschen werden dadurch zwar immer reicher, aber was ihr Glücksempfinden betrifft, treten sie auf der Stelle.“ Die Rote Königin lässt grüßen. Binswangers vorläufiges Fazit: „Offenbar leben Menschen nicht so, wie es für sie selbst am besten wäre. Es ginge ihnen insgesamt besser, wenn sie mehr Zeit hätten und dafür auf zusätzliches Einkommen verzichteten.“
Aber nicht nur das Streben nach Reichtum und Status bildet eine Tretmühle, auch die technologische Revolution im Haushalt frisst ihre Kinder, sprich: unsere Zeit. Die Soziologin Joann Vanek hat bereits 1973 für die USA gezeigt, dass die durchschnittliche Zeit, die für Hausarbeit draufgeht, trotz der zunehmenden Verbreitung von beispielsweise Staubsaugern und Waschmaschinen zwischen 1920 und
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