Die Steine der Fatima
zu warten, was als Nächstes passieren würde.
Tatsächlich musste sich Beatrice nicht lange gedulden. Schon nach wenigen Sekunden packte der Dicke sie grob am Oberarm und zerrte sie auf die Füße. Seine fleischigen Finger hatten erstaunlich viel Kraft und gruben sich schmerzhaft tief in ihre Muskeln. Nun, jetzt würde sich wenigstens die Wahrheit herausstellen. Wenn dies kein Traum war, würde sie dort spätestens morgen früh einen großen blauen Fleck haben.
Unbeholfen stolperte Beatrice hinter ihm her. Ihre Rippen und ihr Arm taten höllisch weh. Trotzdem gelang es ihr, einen kurzen Blick auf ihre Umgebung zu werfen. Sie befand sich in einem ziemlich niedrigen, höchstens zwanzig Quadratmeter großen Raum. Außer ihr waren noch etwa zwanzig andere Frauen anwesend; diese Zahl konnte sie jedoch nur schätzen, da der Raum von einer einzelnen erbärmlich rußenden Fackel bloß spärlich erleuchtet wurde. Die Mauern bestanden aus großen Steinquadern und wirkten so breit und unbezwingbar wie die Mauern einer mittelalterlichen Burg. Auf dem Boden lag eine dicke Schicht Stroh. Es war schmutzig, als wäre es seit Jahrzehnten nicht erneuert worden, und Beatrice schüttelte es bei dem Gedanken, dass sie noch vor wenigen Sekunden auf dieser schleimigen, schimmlig feuchten Masse gesessen hatte, in der sich bereits wieder neues Leben zu entwickeln schien. Am meisten überraschte sie jedoch der Anblick der etwa unterarmdicken Gitterstäbe an der Stirnseite des Raums. War sie etwa in einem Gefängnis gelandet? Warum? Was zum Teufel ging hier vor?
Der Dicke war vor dem Gitter stehen geblieben und schrie einem Mann auf der anderen Seite etwas zu. Dieser, ein dünner Kerl mit krummen Beinen und einer schmutzigen Augenklappe, zog eilig den wohl größten Schlüsselring von seinem Gürtel, den Beatrice jemals gesehen hatte, und öffnete hastig das Schloss der Gittertür. Sie quietschte in ihren Angeln, als der Dicke sie ungeduldig aufstieß und Beatrice auf einen Gang zerrte. Sie hörte, dass die Tür hinter ihr wieder abgeschlossen wurde und die anderen Frauen zum Gitter drängten, sich an den Stäben festklammerten und laut kreischten und jammerten. Beatrice konnte nur vermuten, dass sie verzweifelt um ihre Freilassung, um Wasser und Brot schrien. Was würde nun mit ihr geschehen? An eine Freilassung glaubte Beatrice nicht. Wenn es so weitergehen würde wie bisher, würde man sie wahrscheinlich direkt in die Folterkammer oder zum Henker führen. Die hoffnungslosen Schreie der anderen Frauen gellten hinter ihr her, und Beatrice hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, um sie nicht mehr hören zu müssen. Aber dazu kam sie nicht. Unbarmherzig schleifte der Dicke sie einen düsteren Gang entlang, ohne auch nur für den Bruchteil einer Sekunde seinen Griff zu lockern. Es ging an weiteren Zellen vorbei; noch mehr Hände reckten sich ihnen entgegen, magere schmutzige Hände, die zu ausgemergelten Männern und verwahrlosten Kindern zu gehören schienen. Ihre verzweifelten Schreie zerrissen ihr fast das Herz. So ähnlich mussten sich die Menschen im Mittelalter das Fegefeuer vorgestellt haben. Wie in Trance taumelte sie hinter dem Dicken her, bis sie schließlich in einer Kammer angelangt waren.
An einem Tisch saß ein orientalisch gekleideter Mann und schrieb. Offenbar war er ein Exzentriker, denn er benutzte weder Füller noch Kugelschreiber, sondern schrieb mit Federkiel und Tinte. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, fuhr er in seiner Arbeit fort. Doch das war wohl normal, denn sogar der dicke Sklaventreiber sagte nichts, sondern zeigte sich erstaunlich geduldig. Endlos zogen sich die Minuten hin, in denen nur das Kratzen der Feder auf dem Papier zu hören war. Um sich die Zeit zu vertreiben, betrachtete Beatrice den Mann am Schreibtisch eingehend und bewunderte die Sicherheit, mit der er sein altertümliches Schreibwerkzeug in regelmäßigen Abständen ohne aufzusehen in das Tintenfass tauchte. Seine Erscheinung passte überhaupt nicht zu dem schlichten Holztisch, dem groben Mauerwerk und den rußenden Fackeln in der kleinen Kammer. Er schaute eher aus wie ein wohlhabender Kaufmann als ein Gefängniswärter. Er hatte dunkles, kurz geschnittenes Haar und einen dunklen, sehr gepflegten Vollbart. Seine Kleidung sah sauber und teuer aus, und Beatrice hätte wetten mögen, dass wenigstens die Weste aus schwerer Seide war. Außerdem trug er auffallend viel Schmuck – große goldene Ohrringe, gleich mehrere Halsketten und an fast
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