Die Steine der Fatima
bösartig. Er überrascht immer wieder mit neuen, ungeahnten Kräften. Aber mit der Zeit lernt man, damit umzugehen – und ihm zu vertrauen.«
Beatrice starrte die alte Frau an. »Dann habe ich mir das alles also nicht eingebildet?«
»Ich weiß zwar nicht, was du erlebt hast, mein Kind, aber ich denke, nein.« Frau Alizadeh lächelte. »Es sollte dich allein schon überzeugen, dass wir uns beide heute angeregt unterhalten, während wir gestern einander nicht verstanden haben. Dein Arabisch ist übrigens hervorragend.«
»Aber das…«
»Das sind die Kräfte des Steins. Glaube mir.« Ein liebevolles Lächeln glitt über das Gesicht der alten Frau. »Hast du ihn bei dir? Ich würde ihn gern noch einmal sehen.«
Beatrice holte den Stein aus der Tasche. Nachdenklich betrachtete sie ihn. »Er ist wunderschön«, flüsterte sie.
»Ja, das ist er. Er ist außergewöhnlich. Ein Stück des Auges von Fatima, der Vielgeliebten. Ein Stück des Auges, das sie aus Kummer über die zerstrittenen Gläubigen hingab und das Allah in Seiner Güte in einen vollkommenen, reinen Saphir verwandelte.« Frau Alizadeh seufzte. War es Sehnsucht?
»Ich möchte Ihnen den Stein zurückgeben«, sagte Beatrice kurz entschlossen. »Er gehört Ihnen.«
»Nein!« Frau Alizadeh schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, er gehört jetzt zu dir. Ich bin mittlerweile zu alt, um weiterhin sein Hüter zu sein. Der Stein muss in jüngere Hände.«
»Aber…«
»Kein Aber!« Frau Alizadeh wurde ernst. »Achte gut auf den Stein, trage ihn immer bei dir. Es gibt viele Menschen, die alles tun würden, um ihn in ihren Besitz zu bringen. Sie würden sogar über Leichen gehen. Halte ihn geheim, vertraue dieses Geheimnis niemandem an.«
Beatrice nickte. Saddin fiel ihr ein. Jemand hatte ihn dafür bezahlt, ihr den Stein abzunehmen. Schon damals… »Ich weiß«, sagte sie leise. »Können Sie mir nicht mehr über den Stein der Fatima und seine Kräfte erzählen? Was muss ich tun, was…«
Frau Alizadeh schüttelte den Kopf. »Nein. Der Stein offenbart sich jedem in eigener Weise. Für dich wird es anders sein, als es für mich war. Alles, was ich dir sagen kann, ist, dass du dem Stein der Fatima vertrauen kannst. Er tut nichts ohne Grund. Alles andere musst du selbst herausfinden.« Sie lächelte. »Aber vielleicht hat er dir etwas mitgegeben, ein Geschenk, dessen wahre Bedeutung bloß du ermessen kannst.«
Beatrice seufzte. Statt Antworten gab Frau Alizadeh ihr nur noch mehr Rätsel auf.
»Ich hatte gehofft, Sie könnten mir weiterhelfen.«
»Der Stein wird dir den Weg weisen. Ich wünsche dir Glück und Weisheit. Der Segen Allahs ruhe auf dir und deinen Nachkommen.«
Beatrice verneigte sich. »Wenn ich wieder Dienst habe, komme ich vorbei.«
»Das würde mich freuen.«
Beatrice verließ nachdenklich das Zimmer. Was sie eben gehört hatte, musste sie erst einmal verarbeiten. Anscheinend war es doch wahr, sie hatte nicht geträumt. Irgendwelche Legenden und Märchen, die sie bislang nicht einmal gekannt hatte, waren Wirklichkeit geworden. Aber was hatte Frau Alizadeh mit diesem Geschenk gemeint? An der Glastür der Station stieß Beatrice beinahe mit der Nachtschwester zusammen.
»Frau Dr. Helmer!«, rief die Schwester überrascht aus.
»Ich dachte, Sie sind zu Hause und liegen dort mit Gehirnerschütterung im Bett.«
»Sollte ich eigentlich auch – wenn es nach den Kollegen ginge«, erwiderte Beatrice verlegen. »Aber ich fühle mich ausgezeichnet.« Sie senkte ihre Stimme zu einem vertraulichen Ton. »Ich war mir nicht mehr sicher, ob ich gestern Nacht bei Frau Alizadeh den Redon wirklich angenäht habe. Ich musste einfach nachsehen, sonst hätte ich keine Ruhe bekommen.«
»Aha. Und?«
»Alles klar, er sitzt bombenfest.«
»Dann ist es ja gut.« Ein verständnisvolles Lächeln glitt über das Gesicht der Schwester. Jedem im medizinischen Bereich Tätigen, egal ob Arzt oder Schwester, erging es irgendwann so, dass man sich nicht mehr erinnern konnte, ob man etwas bei einem Patienten getan hatte oder nicht. Hatte man das Pflaster entfernt? Die Medikamente umgestellt? Die Infusion abgestöpselt? Die Pragmatiker riefen dann einfach auf der Station an und ließen das überprüfen. Die Genauen kamen selbst vorbei.
»Also gute Nacht und einen ruhigen Dienst«, sagte Beatrice und öffnete die Tür.
»Danke. Und Ihnen gute Besserung.«
Langsam und bedächtig ging Beatrice die Stufen ins Erdgeschoss hinunter. In der Tasche fühlte sie den Stein.
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