Die Steine der Fatima
lebhafte Träume, in denen Geräusche, Farben und Gerüche so intensiv waren, als wären sie real?
Während Beatrice darüber nachdachte, unterhielten sich die Frauen leise, als wüssten sie nicht genau, was sie mit ihr anfangen sollten. Sie wirkten scheu, fast ängstlich. Nur eine von ihnen, ein etwa fünfzigjähriges Weib, das besonders schmutzig und verwahrlost aussah, schien sich nicht zu fürchten. Mit ihrer grässlichen schrillen Stimme schimpfte sie die anderen aus. Die Alte grinste hämisch und näherte sich Beatrice, sodass sie ihren feuchten, nach Fäulnis stinkenden Atem auf ihrem Gesicht spürte. Unfähig, auch nur ein Glied zu rühren, starrte sie in einer Mischung aus Ekel und Faszination auf die schwarzen, von Karies zerfressenen Zähne im Mund der Alten, von denen dieser Gestank ausging. Wie konnte ein Mensch mit solchen Stummeln kauen? Musste sie nicht elendig verhungern? Oder ernährte sich die Alte nur noch von Suppen und Brei?
Erst als das alte Weib Beatrice mit ihren schmutzigen Händen anzutatschen begann, kam wieder Leben in sie. Diese schwieligen Hände mit den schwarzen, teils abgebrochenen, teils viel zu langen Fingernägeln auf ihrem Körper zu fühlen war einfach zu viel, selbst für einen Traum.
Beatrice schrie vor Ekel und Entsetzen laut auf, fuhr hoch und erwartete, nun endlich wieder wach zu sein und in ihrem Bett zu sitzen. Aber nichts dergleichen geschah. Was für ein hartnäckiger Traum! Die Frauen, die ebenfalls vor Schreck laut kreischend zurücksprangen, als hätten sie nicht erwartet, dass Beatrice noch lebte, umringten sie immer noch. Also kroch Beatrice auf allen vieren rückwärts, bis sie etwas Hartes in ihrem Rücken spürte, an das sie sich anlehnen konnte. Es war kalt und feucht und glitschig, das spürte sie deutlich durch den Stoff ihrer Kleidung hindurch. Dennoch wagte sie es nicht, sich umzudrehen und dabei die Frauen aus den Augen zu lassen. Sie näherten sich ihr wie eine Meute hungriger Löwen einer einzelnen Gazelle. Beatrices Herz klopfte wie ein Dampfhammer. Gleich würden sie sie erreicht haben und sich auf sie stürzen. Verzweifelt tastete sie den Boden nach etwas ab, mit dem sie sich verteidigen konnte. Aber sie fand nur Stroh, Stroh und… Beatrice weigerte sich, länger über die Herkunft jener weichen Masse nachzudenken, die ihre Finger für den Bruchteil einer Sekunde berührt hatten. Was sollte sie nur tun? Konnte man im Traum sterben? Vielleicht würde sie dann ja endlich aufwachen.
Doch in dem Augenblick, als Beatrice sich in ihr unausweichliches Schicksal ergeben wollte, erklang die laute, herrische Stimme eines Mannes. Mit der kurzen Peitsche in seiner Hand teilte er wahllos Schläge nach rechts und links aus. Heulend und kreischend sprangen die Frauen zur Seite und gaben ihm den Weg frei, bis er endlich vor Beatrice stand. Der Mann war klein und fett und trug nichts weiter als eine Art Pumphose, deren Stoff wohl irgendwann einmal, vielleicht vor Monaten, weiß gewesen sein mochte. Er hatte eine Halbglatze, einen dunklen, einigermaßen gepflegt aussehenden Vollbart und breite goldene Ohrringe an beiden Ohrläppchen. Er sah aus wie ein Sklavenhändler aus einem der Sindbadfilme der fünfziger Jahre.
»Gut, dass Sie kommen«, sprach Beatrice ihn an und war zu diesem Zeitpunkt wirklich erleichtert. Wer konnte schon sagen, was die Frauen mit ihr angestellt hätten, wenn er nicht erschienen wäre? »Können Sie mir sagen, was hier vorgeht? Ich verstehe nämlich überhaupt nicht…«
Ein kräftiger Tritt in die Rippen brachte sie jäh zum Schweigen und raubte ihr vor Schmerz und Überraschung den Atem. Zum ersten Mal hatte sie leise Zweifel, dass es sich um einen Traum handelte. Mit Tränen in den Augen starrte sie den Dicken an, der breitbeinig vor ihr stand, sie in einer ihr unbekannten Sprache anschrie und ihr dabei immer wieder mit seiner Peitsche drohte. Er schien etwas von ihr zu erwarten, denn von Sekunde zu Sekunde wurde er wütender. Sein fetter, vor Schweiß glänzender Bauch wabbelte, während er vor Wut auf und ab sprang und Beatrice an einen cholerischen Nachbarn in ihrem Haus erinnerte. Aber das Lachen war ihr schon längst vergangen. Sie hätte ihm gern gesagt, dass sie ihn nicht verstand und nicht wusste, was er von ihr wollte, aber sie traute sich nicht. Sie hatte die blutigen Striemen gesehen, die die Peitsche auf den Armen und Gesichtern der anderen Frauen hinterlassen hatte. Es kam ihr klüger vor, einfach zu schweigen und darauf
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