Die Steine der Fatima
etwa fünfzig Zentimeter tiefer trichterförmiger Schacht knapp unterhalb der Decke war, durch den freundliches Tageslicht in das Zimmer fiel. Es war vergittert. Also befand sie sich schon wieder in einem Gefängnis, wenn es auch dieses Mal wesentlich angenehmer zu sein schien. Das Laken, das sie vom Boden aufhob, war sauber. Eine erfrischende Abwechslung nach all dem Dreck und Gestank. Oder war es doch nur wieder ein Traum? Beatrice warf einen prüfenden Blick auf ihren Oberarm. Tatsächlich hatte sie dort Hämatome, jeder einzelne Finger des fetten Sklavenaufsehers war deutlich sichtbar. Und wenn sie einen der blauen Flecke berührte, spürte sie jenen typischen Muskelschmerz, der Hämatomen eigen ist. Sie fuhr sich durch das blonde Haar. Also hatte sie das alles nicht geträumt. Schlimm genug. Aber jetzt wusste sie wenigstens Bescheid.
Beatrice stand auf und wunderte sich ein wenig darüber, wie gelassen sie diese ganze Situation hinnahm. Doch das war bisher immer ihre große Stärke gewesen, ein Wesenszug, durch den sich viele Chirurgen auszeichnen – in kritischen Momenten einen kühlen Kopf zu bewahren.
Beatrice trat ans Fenster. Da es keine Fensterscheibe hatte, konnte sie die dicken eisernen Gitterstäbe berühren, wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte. Sie schienen tief im Mauerwerk verankert zu sein und saßen so fest, wie es kaum fester ging. Aber das Rütteln am Gitter war ohnehin nichts anderes als ein Reflex. Das Fenster war so schmal, dass sie auf gar keinen Fall hindurchklettern konnte. Beatrice stellte sich vor, wie kalt es in der Zelle im Winter werden würde, wenn Wind und Schnee ungehindert durch das offene Fenster hereinwehen konnten. Sie ließ sich seufzend auf das schmale Bett sinken und stützte den Kopf in die Hände. Sklavenhandel. In unserer Zeit! Sie konnte es immer noch nicht fassen.
Vor einigen Jahren hatte sie in einer Zeitschrift gelesen, dass es in entlegenen Winkeln dieser Erde, vor allem im Südchinesischen Meer, immer noch Sklavenhändler gab, die regelmäßig auf Beutezüge gingen. Aber mitten in einer deutschen Großstadt? Das war doch völlig verrückt. Wie waren diese Kerle überhaupt an sie herangekommen? Hatte man ihr unbemerkt eine Droge gegeben, im Kaffee zum Beispiel? Mit einem Halluzinogen ließ sich natürlich auch ihr Erlebnis in der Schleuse viel besser erklären. Aber warum ausgerechnet sie?
Plötzlich merkte sie, dass etwas hart gegen ihren Oberschenkel schlug. Auf der Suche nach der Ursache entdeckte sie eine Tasche an ihrem Kleid, die ihr bisher nicht aufgefallen war. Sie griff hinein und zog voller Überraschung einen Stein heraus. Es war der Stein, den sie in der Schleuse zum ersten Mal in Händen gehalten und den ihr vermutlich die alte Frau kurz vor der Operation zugesteckt hatte. Sie betrachtete ihn nachdenklich. Der Stein war wunderschön. Und als sie ihn gegen das Fenster hielt, brach sich in ihm das Sonnenlicht und versprühte blaue Funken im ganzen Raum. Ob es ein Saphir war? Sicherlich war er unbezahlbar. Noch während sie sich an den Lichtreflexen erfreute, hörte sie plötzlich schwere Schritte, die vor ihrer Tür stehen blieben. Hastig steckte Beatrice den Stein wieder in die geheime Tasche. Wenn die Sklavenhändler ihn bisher nicht gefunden hatten, würde er auch jetzt dort sicher sein.
Ein schwerer Riegel wurde zurückgeschoben, und die Tür öffnete sich mit lautem Knarren. Es war jener Mann, der sie vorhin begutachtet hatte. In seiner Begleitung befand sich ein etwa zwölfjähriges mageres Mädchen, das einen großen Weidenkorb trug. Sie ächzte und stöhnte, und Beatrice verfluchte in Gedanken diesen Kerl, der das magere Ding die schwere Last alleine schleppen ließ.
Er stieß einen unfreundlich klingenden Befehl zwischen den Zähnen hervor und schubste das Mädchen so unsanft in die Zelle, dass die Kleine unter dem Gewicht des großen Korbs stolperte und fast hingefallen wäre. Beatrice konnte sie gerade noch rechtzeitig auffangen. Sie lächelte dem völlig verschüchterten Mädchen aufmunternd zu und wollte den Sklavenhändler zur Rede stellen, als er das Wort zuerst an sie richtete – auf Lateinisch! Beatrice war so überrascht, dass es ihr die Sprache verschlug und sie ihm mit offenem Mund zuhörte. Sie war froh, dass niemand mit einem Fotoapparat in der Nähe war, denn ihr Gesicht musste einen ziemlich dummen Ausdruck gehabt haben. Aber war das ein Wunder? Sie hatte noch niemals jemanden Lateinisch sprechen hören. Obwohl er
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