Die Steine der Fatima
Bedeutung. Sie kniete neben dem Bett nieder und legte eine Hand auf die gefalteten Hände der Toten.
»Mögest du es dort, wo du jetzt bist, leichter haben als hier«, flüsterte sie und ließ den Tränen freien Lauf. »Du wirst mir fehlen, Sekireh.«
Als sie sich wieder erhob, trat Hannah auf sie zu.
»Dies ist der Rest«, sagte die Dienerin und reichte Beatrice das Päckchen mit dem Opium. Es war erheblich kleiner geworden. »Sie hat nicht mehr alles gebraucht. Ich möchte es an Euch und den verehrten Ali al-Hussein zurückgeben. Vielleicht könnt Ihr damit einem anderen Kranken helfen.« Beatrice nahm das Opium und steckte es in die geheime Tasche, in der sie auch den Stein der Fatima aufbewahrte.
»Weiß der Emir schon, dass Sekireh… dass seine Mutter –?« Aus irgendeinem Grund gelang es ihr nicht, das Unabänderliche auszusprechen. Vielleicht wurde der Tod erst dann Realität, wenn man ihn beim Namen nannte.
Hannah schüttelte den Kopf.
»Nein. Hier weiß es noch niemand. Ich wollte ihr noch ein wenig Ruhe gönnen. Wenn erst die Klageweiber erscheinen und Nuh II. mit seiner falschen Trauer an ihrem Bett steht, ist es mit ihrem Frieden vorbei. Ich weiß, dass sie die Stille mehr schätzt und zuerst von den Menschen Abschied nehmen möchte, die sie gemocht hat, bevor sie in das Paradies geht.«
Eine Träne rollte über die Wange der Dienerin. »Ich danke Euch von ganzem Herzen für das, was Ihr für Sekireh getan habt, Herrin.«
Beatrice seufzte und wischte sich die Tränen aus den Augen.
»Ich wünschte, ich hätte mehr tun können. Ich werde sie nie vergessen.«
Sie verabschiedete sich von Hannah. Erst als sie das Zimmer wieder verließ, merkte sie, dass Ali die ganze Zeit über draußen gewartet hatte. Er stellte keine Fragen, versuchte nicht, sie zu trösten oder mit Belanglosigkeiten abzulenken. Er sagte kein Wort, und sie war ihm dankbar dafür. Schweigend gingen sie den Gang entlang, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Beatrice war so versunken, dass sie beinahe die Gestalt übersehen hätte, die voller Misstrauen aus einer Nische hervorschaute. Erst im letzten Augenblick erkannte Beatrice, um wen es sich handelte – es war Mirwat. Sie war unverschleiert und verbarg sich vor Alis Blicken hinter einer breiten Palme, die in einem Messingkübel stand. Mirwat war schließlich eine ehrbare, sittsame Frau, die die Gesetze des Korans achtete und genau befolgte. Dennoch hatten weder Ehrbarkeit noch Sittsamkeit sie davon abgehalten, Freundinnen zu denunzieren und einer alten Frau die schlimmsten Qualen zu wünschen. Ob der Koran so ein Verhalten guthieß? Wohl kaum. Heuchlerin!, dachte Beatrice voller Zorn.
Dann begegneten sich ihre Blicke. Ein harter Ausdruck trat in Mirwats Augen, missmutig hingen ihre Mundwinkel herab, und zwischen ihren Augenbrauen bildeten sich zwei steile Falten. Beatrice erschrak. Und von einer Sekunde zur anderen war ihr Zorn verflogen, denn sie erkannte, dass Mirwat ihre Strafe schon bald bekommen würde. Ihre Schönheit würde nicht mehr lange halten. Es gab bereits jetzt erste Anzeichen für das hässliche, von Falten durchzogene, aufgeschwemmte Gesicht einer missmutigen, hartherzigen Frau. Aber was würde Mirwat dann noch bleiben? Denn eines war sicher – mit ihrer schwindenden Schönheit würde sie auch Nuhs Gunst verlieren. Und die Lieder und Verse über die Rose von Buchara würden bald vergessen sein.
»Sei vorsichtig mit deinen Worten, denn Flüche sind unberechenbar. Und manchmal kehren sie zu dir zurück«, flüsterte Beatrice. Sie glaubte zwar nicht, dass Mirwat ihre Worte gehört oder gar verstanden hatte, aber eigentlich sagte sie es auch mehr zu sich selbst – als Warnung. Vor einiger Zeit hatte ein indonesischer Freund ihrer Eltern diese Wort ausgesprochen, als Beatrice heftig über ihren Chef geschimpft und ihm nichts Gutes gewünscht hatte. Damals hatte sie diese Worte als Aberglaube abgetan, aber nun war sie sich nicht mehr sicher. Vielleicht hatte er recht. Es sah nämlich so aus, als wäre Mirwat genau das passiert. Ihre eigenen Verwünschungen waren zu ihr zurückgekehrt und hatten sie getroffen. Beatrice lief ein kalter Schauer über den Rücken. Entsetzt und angewidert zugleich wandte sie den Blick ab und ging davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.
16
Schlaflos lag Beatrice in dieser Nacht auf ihrem Bett. Sie hatte das Fenstergitter geöffnet und die Vorhänge zurückgezogen, damit die kühle Nachtluft ungehindert
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