Die Steine der Fatima
hereinwehen konnte. Hellwach lag sie da und starrte an die weiß getünchte Decke, die ideale Leinwand für ihre Erinnerungen. Sie dachte daran, wie sie Sekireh das erste Mal gesehen hatte – eine spöttische, herrische Frau, die Mirwat mit zwei oder drei treffenden Worten das Blut ins Gesicht getrieben hatte. Weder das Alter noch das Leben hatten sie gebeugt, und selbst in der Zeit, als Sekireh vor Schmerzen kaum noch gehen konnte, hielt sie sich kerzengerade wie eine junge Tänzerin.
Beatrice erinnerte sich noch genau an den Tag, als Sekireh zu ihr ins Zimmer kam, um sich ihren medizinischen Rat zu holen. Jetzt, im Rückblick, wurde ihr klar, dass sie von diesem Moment an Freundinnen gewesen waren. Sie waren einander ähnlich trotz der kulturellen Unterschiede und Sekirehs vorgerücktem Alter, sie waren einander ebenbürtig, auch in Meinungsverschiedenheiten, und sie respektierten und verstanden sich auch ohne viele Worte. Beide hatten die Intrigen, Sticheleien und Feindseligkeiten, die das alltägliche Leben im Harem bestimmten, durchschaut. Und beide hatten dieses oberflächliche, inhaltslose, nur von Äußerlichkeiten geprägte Dasein satt. Wie oft hatten sie sich von den anderen zurückgezogen, um miteinander zu reden, zu diskutieren? Wie oft hatten sie nebeneinander auf einer der Bänke im Garten gesessen – schweigend – und einfach nur auf den stillen Teich hinausgesehen? Beatrice seufzte. Eine Freundschaft, wie sie sie mit Sekireh verbunden hatte, war selten. Jetzt blieb ihr nur noch Trauer und die Erinnerung an eine alte, eigenwillige, unbeugsame Frau.
Beatrice seufzte erneut und drehte sich auf dem schmalen Bett zur Seite. Mitternacht war schon längst vorüber, bald würde die Sonne aufgehen und die Stimme des Muezzin die Gläubigen Bucharas wecken. Vielleicht würde es ihr doch gelingen, wenigstens ein oder zwei Stunden zu schlafen. Sie schloss ihre Augen. Da fuhr ihr ein Gedanke durch den Kopf. Irgendetwas stimmte im Zimmer nicht!
Beatrice öffnete die Augen wieder und setzte sich kerzengerade im Bett auf. Ihr direkt gegenüber konnte sie eine schemenhafte Gestalt erkennen. Saß dort jemand? Im ersten Augenblick glaubte Beatrice an einen Traum. Sie rieb sich die Augen und schüttelte den Kopf. Vielleicht war sie ohne es zu merken eingeschlafen und hatte im Halbschlaf geträumt? Es war doch unmöglich, in diesem Zimmer konnte sich niemand außer ihr befinden. Wie um alles in der Welt sollte denn jemand zu ihr hineinkommen? Wie jeden Abend hatte sie die beiden Türen von innen fest verriegelt. Und das Fenster lag mindestens fünf Meter über der Straße und war noch dazu ziemlich schmal. Außerdem war sie die ganze Zeit über wach gewesen, sie hätte den Eindringling hören oder sehen müssen. Beatrice öffnete wieder die Augen, doch die Gestalt saß immer noch da, kaum mehr als ein Schatten mit überkreuzten Beinen, lässig gegen die Wand gelehnt.
Und jetzt, da sie sich auf ihn konzentrierte, konnte sie auch im schwachen Licht der Sterne sehen, dass es sich bei dem Eindringling um einen Mann handelte – und dass er spöttisch lächelte.
»Was soll das? Wer bist du? Wie kommst du herein? Was ist los?«, rief Beatrice aufgebracht.
Zu ihrer eigenen Überraschung hatte sie keine Angst. Sie war einfach nur wütend über diesen Mann, weil er es gewagt hatte, in ihr Zimmer einzudringen. Sie suchte nach einer möglichen Waffe. Aber die Patientenkammer war so spartanisch eingerichtet, dass ihr nicht einmal ein Stuhlbein zur Verfügung stand, um es diesem unverschämten Kerl über den Kopf zu schlagen.
Noch während sie sich voller Zorn umsah, erhob er sich lautlos und schnell und saß schon neben ihr auf dem Bett, bevor sie den Mund öffnen konnte, um zu schreien.
Beatrice nahm den angenehmen, würzigen Duft von Amber und Sandelholz wahr.
»Ganz ruhig«, flüsterte die samtene Stimme eines Engels in ihr Ohr, und eine Hand legte sich auf ihre Lippen, sanft wie ein Kuss.
Viel zu spät bemerkte Beatrice, dass der rätselhafte Mann ihr irgendein Pulver in den Mund streute. Es schmeckte bitter, sie verschluckte sich an der mehligen Trockenheit und musste husten.
Gift!, schoss es ihr durch den Kopf, und die Angst, die sie bislang nicht verspürt hatte, brach nun mit aller Gewalt über sie herein, ließ ihr Herz rasen und ihren Magen Saltos vollführen. Der Schweiß trat ihr aus allen Poren, als ihr klar wurde, was er mit ihr vorhatte.
Beatrice wollte schreien und sich wehren. Sie wollte ihn treten und
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