Die Steine der Fatima
der Lage war. Sie konnte keinen Blutdruck messen. Herr Riva-Rocci, ein italienischer Arzt, der die Methode zur Messung des Blutdrucks erfunden hatte, würde erst in etwa achthundert Jahren geboren werden. Und wie sollte sie Ali einen venösen Zugang legen? Es gab im Mittelalter keine Kanülen. Und da sie keine blutdrucksenkenden Medikamente zur Verfügung hatte, wäre es ohnehin sinnlos gewesen. Natürlich konnte sie nach einer Alternative suchen, es gab sicherlich Kräuter, die eine blutdrucksenkende Wirkung hatten. Aber sie hätte sich zuerst mit den medizinischen Kräutern der arabischen Welt beschäftigen, die entsprechenden Pflanzen beschaffen und ihm dann einen Tee daraus zubereiten müssen – eine Prozedur, die unter Umständen Tage dauern konnte.
Dies hier war aber ein Notfall. Beatrice spürte, wie ein Gefühl in ihr hochstieg, das ihr in Notfallsituationen bislang unbekannt gewesen war – Panik. Sie hatte plötzlich Angst, dass der junge Mann vor ihren Augen sterben könnte, ohne dass sie auch nur einen Finger gerührt hatte. Ihre Gedanken überschlugen sich. Was konnte sie tun? Sie hatte nichts! Keine Medikamente, kein Stethoskop, keine Kanülen. Sie hätte höchstens mit einem Messer… Natürlich! Das war die Rettung, ein Aderlass! Beatrice sah sich bereits nach einem geeigneten Gegenstand um, ein Messer, eine Brosche mit einer scharfen Nadel, irgendetwas, womit sie dem jungen Arzt eine Vene öffnen konnte, um seinen Kreislauf etwas zu entlasten. Da machte er endlich den Mund auf.
»Du bist völlig gesund«, stieß er heftig hervor, riss die Tür auf und stürmte hinaus, als wäre der Teufel hinter ihm her.
»Der hat es eilig«, ließ sich eine Stimme vernehmen.
Überrascht wandte sich Beatrice zu Jussuf um, den sie in ihrer Aufregung fast vergessen hatte. Der dunkelhäutige Eunuch stand immer noch regungslos wie eine Statue mit verschränkten Armen neben der Tür. Aber etwas stimmte nicht mit ihm. Es dauerte eine Weile, bis Beatrice herausfand, dass es das breite Lächeln war, das nicht in das gewohnte Bild passte. Jussuf, den sie nur mit grimmiger, wütender Miene kannte, grinste von einem Ohr zum anderen, unverkennbar zufrieden mit der Szene, die sich soeben vor seinen Augen abgespielt hatte. Offensichtlich hatte er nicht viel Sympathien für den jungen Arzt übrig, vielleicht hasste er ihn sogar. Beatrice fragte sich, woran das liegen konnte. Ob Ali der Arzt war, der jenen Eingriff vorgenommen hatte, welcher Jussuf zu einem Eunuchen machte?
»Hoffentlich habe ich es nicht zu weit getrieben«, sagte Beatrice. »Er sah aus, als ob er jeden Moment tot umfallen würde.«
Jussuf schnaubte verächtlich. »Er ist wie alle Turbanträger. Du bist eine starke Frau. Damit wird er nicht fertig.«
Beatrice sah den Eunuchen überrascht an. In seinen Worten schwang deutlich Anerkennung. Woher kam er? Weshalb war er im Harem des Emirs gelandet? Beatrice fiel auf, dass sie noch nie über Jussuf nachgedacht hatte, obwohl er sie und Mirwat nahezu auf Schritt und Tritt begleitete. Aber ihn auszufragen, das traute sie sich doch nicht.
»Lass uns wieder gehen, Jussuf«, sagte sie. »Ich glaube nicht, dass der Arzt noch einmal zurückkommt.«
Jussuf nickte. Einträchtig nebeneinander wie zwei gleichgestellte Freunde kehrten sie in den Teil des Palastes zurück, der den Frauen vorbehalten war.
Als Ali in das private Arbeitszimmer des Emirs trat, sprang Nuh II. hoch und eilte ihm entgegen.
»Nun, was sagt Ihr, Ali al-Hussein? Kann ich die Sklavin endlich zu mir nehmen?«
Doch Ali achtete nicht auf das Drängen des Emirs. Er war noch zu sehr damit beschäftigt, sein inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Was diese Frau gesagt hatte, hatte ihn in den Grundfesten seiner Seele erschüttert. Alles, woran er glaubte und was er wusste, schien innerhalb weniger Augenblicke in Frage gestellt worden zu sein. War es möglich, dass diese Frau tatsächlich eine… Er mochte an diese Ungeheuerlichkeit nicht einmal denken. Aber wie konnte eine Frau sonst vom Eid des Hippokrates wissen, wenn sie nicht in Medizin unterrichtet worden war?
»Verehrter Ali al-Hussein, was ist mit Euch los?« Die besorgte Stimme des Emirs riss Ali aus seinen Gedanken. »Ist Euch nicht wohl? Ihr seht aus, als wäre Euch soeben ein Dämon begegnet.«
Nuhs Worte trafen Ali wie ein Faustschlag. War dies vielleicht die Lösung? War diese Frau gar kein Mensch, sondern ein Dämon, von den Mächten der Hölle ausgesandt, um ihn zu verderben? Im nächsten
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