Die Steine der Fatima
diesem Abend. Ahmad al-Yahrkun hatte gerade sein Nachtgebet beendet und sich auf dem schmalen Bett in seinem Arbeitszimmer ausgestreckt, um ein paar Stunden zu schlafen, als er plötzlich ein leises Geräusch hörte. Augenblicklich war er hellwach. Er kannte dieses Geräusch sehr gut, es war das Flattern und Kratzen von Flügeln am Fenstergitter. Rasch erhob sich Ahmad und öffnete das Fenster. Gurrend empfing ihn die unscheinbare graue Taube. Er nahm sie in die Hand und streichelte ihr zärtlich über das Gefieder.
»Allah sei Dank, dass du wohlbehalten zurückgekehrt bist«, flüsterte er der Taube zu und band die kleine Röhre von ihrem Bein los. »Mal sehen, welche Nachrichten du mir bringst.«
Ahmad setzte die Taube wieder auf den Fenstersims und schloss das Gitter. Dann zündete er eine Öllampe an und entrollte die Botschaft, die in der ledernen Röhre gesteckt hatte. Sein Herz klopfte bis zum Hals. Voller Unruhe las er die Zeilen.
»Ich muss dringend mit Euch sprechen. Ich erwarte Euch morgen zur gewohnten Zeit.«
Das war alles. Ahmad las die wenigen Worte wohl hundertmal, rätselte immer wieder an ihrer Bedeutung herum.
Aber mehr, als dort stand, konnte er ihnen nicht entnehmen. Sein Kontakt war klug und vorsichtig, Eigenschaften, die er schätzte. Selbst wenn die Taube Jägern in die Hände gefallen wäre, würde niemand außer Ahmad mit der Nachricht etwas anzufangen wissen. Dennoch ärgerte er sich. Wenn es um wichtige Angelegenheiten ging, hasste er es zu warten. Noch einmal betrachtete er das kleine Stück Papier von allen Seiten. Es handelte sich um teures Papier von ausgezeichneter Qualität, wie man es nur selten kaufen konnte. Die schöne, charaktervolle Handschrift darauf machte es sogar zu einer Kostbarkeit. Ahmad seufzte und hielt das Papier in die Flamme der Öllampe, bis es Feuer fing. Schweren Herzens sah er dabei zu, wie es in einer Messingschale langsam zu Asche verbrannte. Er sammelte mit Leidenschaft schöne Handschriften; das einzige Laster, das er sich in seinem sonst eher asketischen Leben gönnte. Es tat ihm in der Seele weh, eine solche Kostbarkeit zu verbrennen, aber er hatte keine andere Wahl. Niemand durfte die Nachricht finden.
Ahmad löschte die Lampe und streckte sich wieder aus. Es dauerte jedoch lange, bis er endlich den wohlverdienten Schlaf fand. Denn er grübelte darüber nach, welche Neuigkeiten es nötig machten, seinen Kontakt persönlich zu treffen.
Unruhig warf Ahmad sich von einer Seite zur anderen. Und es tröstete ihn nicht, dass nur noch wenige Stunden bis zum Morgengebet blieben.
9
Ahmad al-Yahrkun erwachte frühzeitig am nächsten Morgen. Er verrichtete die rituellen Waschungen, kleidete sich rasch an und verließ sein Zimmer noch vor dem Morgengesang des Muezzin. Auf seinem Weg durch den Palast begegnete ihm niemand, alle Bewohner schienen noch zu schlafen. Nur die Wachen auf den Palastmauern versahen ihren Dienst. Die Soldaten am Tor grüßten Ahmad höflich und ließen ihn ohne zu fragen passieren. Es war allgemein bekannt, dass der Großwesir oft frühzeitig aufstand und noch vor dem Morgengebet einen Erkundungsgang durch die Stadt unternahm.
Ahmad trat vor das Palasttor und atmete die kühle, klare Morgenluft ein. Der Himmel über ihm war noch dunkel, aber in der Ferne zeigte sich bereits ein heller Streifen. Bald würde sich die Sonne über den Horizont erheben, der Muezzin würde auf das Minarett steigen und mit seiner klaren Stimme den Lobpreis Allahs ausrufen. Die Bewohner Bucharas würden erwachen, und der Tag würde beginnen. Ahmad liebte die Stadt zu dieser Stunde, wenn alles schlief – brave Menschen und Sünder gleichermaßen. In dieser geheimnisvollen, wunderbaren Stunde, diesem Schweben zwischen Nacht und Tag, war die Stadt rein, unschuldig, jungfräulich. Nie fühlte er sich Allah, dem Allmächtigen, näher, als wenn er mit dem Rosenkranz in der Hand durch die menschenleeren Straßen Bucharas ging. Manchmal glaubte er sogar, den Atem Allahs zu spüren, der kam, um nach Seinen Gläubigen zu sehen.
Ahmad wandte sich vom Palast ab und ging ruhigen Schrittes eine der schmalen Straßen entlang, während er die neunundneunzig Perlen des Rosenkranzes langsam durch seine Finger gleiten ließ. Kein Mensch begegnete ihm auf seinem Weg durch die Stadt, selbst die Katzen und Hunde schienen noch zu schlafen.
Schließlich blieb er vor einem schlichten Haus stehen. Gerade als er an die Tür klopfen wollte, erhob der Muezzin seine
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