Die Steine der Fatima
allen war es Fatima, die Vielgeliebte, der er seine größte Zuneigung schenkte. Sie war schön von Gestalt und Antlitz, dabei voller Liebreiz, Tugend und Klugheit.
Stolz, Hochmut und Eitelkeit waren ihr fremd. Schon in früher Kindheit führte sie ein Allah gefälliges Leben. Und jedem, der sie nur sah oder ihre liebliche Stimme hörte, schien es, als hätte Allah selbst einen Strahl Seiner unendlichen Güte und Barmherzigkeit durch dieses Mädchen auf die Erde gesandt. Besonders außergewöhnlich aber waren Fatimas Augen. Groß und leuchtend waren sie und so blau wie der Himmel. Sie half ihrem Vater, unserem Propheten, bei der Verbreitung des heiligen Wortes Allahs, und die Menschen nahmen es freudig auf. Doch nicht lange nachdem Allah, Sein Name sei gepriesen, in Seiner großen Güte seinen Propheten Mohammed zu sich geholt hatte, wurden die Gläubigen unzufrieden und mürrisch. Wie Menschen eben sind, begannen sie das heilige Wort Allahs nach ihren eigenen Bedürfnissen auszulegen. Sie stritten sich und bildeten Gruppen, die miteinander nichts mehr zu tun haben wollten. Sie bestimmten ihre eigenen Oberhäupter, und jede der Parteien behauptete von sich, allein im Besitz der Weisheit Allahs zu sein.
Fatima sah diese Entwicklung voller Traurigkeit mit an. Man sagt, dass es jedes Mal regnete, wenn sie aus Kummer über die Zwietracht, die unter den Gläubigen herrschte, weinte. Und in dieser Zeit regnete es sehr oft. Der Schmerz zehrte an der Tochter des Propheten, und schließlich war sie dem Tode nahe. Bevor Fatima, die Vielgeliebte, starb, betete sie in ihrem unendlichen Kummer zu Allah. Sie riss sich ein Auge heraus und bat Allah’ darum, dass dieses Auge die Weisheit und den Frieden zu den Gläubigen zurückbringen sollte. Und Allah in Seiner unermesslichen Güte erhörte ihr Gebet. Er verwandelte das Auge in einen Saphir, so groß und vollkommen und schön, wie die Welt ihn noch nie gesehen hatte.
Doch kaum dass Allah, Sein Name sei gepriesen, Fatima, die Vielgeliebte, zu sich ins Paradies genommen hatte, begann der Streit unter den Gläubigen von Neuem. Jede Gruppe wollte das Auge für sich haben und so die Herrschaft über alle Gläubigen erringen. Zudem dünkten sie sich erhaben über Juden und Christen, die solch ein kostbares Kleinod nicht besaßen. Als Allah das sah, wurde Er zornig über die Gier und den Hochmut der Menschen. Er schleuderte einen Blitz auf die Erde hinab, der das Auge der Fatima in viele Stücke zersprengte. Diese verteilte Er über die ganze Welt. Die Menschen sollten sie mühevoll wieder zusammensuchen müssen. Und erst, wenn ihnen dies eines fernen Tages gelungen sein würde und sie genügend Weisheit erlangt hätten, würden die Gläubigen sich wieder vereinen. Sie würden gemeinsam mit Juden und Christen Allah dienen, und es würde endlich Friede herrschen.«
Als Samira ihre Erzählung beendet hatte, verfiel sie eine Weile in Schweigen. Beatrice war fasziniert. Sie liebte die orientalischen Geschichten. Sie waren so bildlich und blumig in ihrer Sprache.
»Eine wunderschöne Legende«, sagte sie. »Aber was hat das mit mir zu tun?«
Samira lächelte. »Weißt du das wirklich nicht?«, fragte sie sanft. »Hast du nicht gesehen, wie dieser Stein das Dunkel vertrieben und das Böse vernichtet hat? Es ist ein Teil des Auges.« Ihre Stimme wurde zu einem ehrfürchtigen Flüstern. »Einer der Steine der Fatima.«
Für einen Moment war Beatrice sprachlos. Eine hübsche Erzählung zu hören und sich daran zu erfreuen war eine Sache. Etwas ganz anderes war es jedoch, wenn eine unförmige orientalische Hexe andeutete, dass man selbst mitten darin steckt. Vermutlich hätte Samira Beatrice ebenso gut sagen können, bei einem der Gefäße zu ihren Füßen handle es sich um den Heiligen Gral. Sie vermochte es nur schwer zu glauben.
»Was soll ich dazu sagen«, murmelte sie und schüttelte fassungslos den Kopf. Wollte Samira sie auf den Arm nehmen, oder glaubte die Alte wirklich an das, was sie ihr erzählt hatte?
»Wem hast du schon etwas von deinem Stein gesagt?«, fragte Samira.
»Niemandem.«
»Das ist gut.« Samira nickte zufrieden. »Und so solltest du es auch weiter halten. Zeige ihn niemandem, sprich mit keinem darüber. Du musst die Existenz des Steins unbedingt geheim halten. Wenn es sich auch nur um einen Teil des Auges handelt, so birgt der Stein doch große Macht. Und es gibt genügend Menschen, die alles tun würden, um in seinen Besitz zu gelangen.«
»Nun, er muss
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