Die Steine der Fatima
Stimme. Ahmad hielt inne, schloss die Augen und betete. Er hatte zwar sein Morgengebet gleich nach dem Aufstehen gesprochen, nutzte aber dennoch jede Gelegenheit, um Allah mit einem Gebet zu ehren. Erst dann klopfte er an die Tür und wartete.
Es handelte sich um das Haus eines Schreibers, bei dem Ahmad schon viele Handschriften und Kopien, auch im Namen des Emirs, in Auftrag gegeben hatte. Selbst wenn also Bewohner der umliegenden Häuser ihn hier vor der Tür stehen sahen und vielleicht sogar erkannten – niemand würde sich darüber wundern oder gar Verdacht schöpfen.
Ein großer breitschultriger Diener öffnete ihm. Mit einer stummen Verbeugung begrüßte er Ahmad und führte ihn ohne ein Wort zu sagen einen schmalen Flur entlang in einen kreisrunden Raum, der nicht weniger als neun Türen hatte. Hier zog er Ahmad eine Kapuze aus dichter schwarzer Wolle über den Kopf, drehte ihn dann mehrmals um seine Achse und klopfte dann an eine Tür. Ahmad kannte die Prozedur bereits und wartete darauf, dass eine kräftige Hand seinen Arm packte und ihn auf verschlungenen Wegen zu dem geheimnisvollen Treffpunkt führen würde. Dennoch glitten die Perlen des Rosenkranzes etwas schneller durch seine Finger. Als er vor etwa zwei Jahren das erste Mal hier gewesen war, hatte er um sein Leben gefürchtet und fest damit gerechnet, das Tageslicht nie wieder zu sehen. Mittlerweile empfand er dieses seltsame Verfahren nur noch als unwürdig und erniedrigend. Trotzdem machte ihn der Gedanke nervös, seinem unsichtbaren Führer hilflos ausgeliefert zu sein. Aber sein Kontakt war kaum mehr als ein Schatten in Buchara. Ohne Zweifel wollte er es auch bleiben – zu seiner eigenen Sicherheit und zur Sicherheit derjenigen, die ihn aufsuchten.
Ahmad begann bereits ein zweites Mal mit der Rezitation der neunundneunzig Beinamen Allahs, als er schließlich die Hände seines stummen Begleiters im Rücken spürte. Er wurde ein paar Schritte vorwärts geschoben und hörte dann eine Tür hinter sich ins Schloss fallen. Endlich war er am Ziel. Der angenehme, beruhigende Duft von Amber und Sandelholz empfing ihn, und vor sich, in nicht allzu großer Entfernung, hörte er das leise Rascheln von Papier und das Kratzen einer Feder. Dort saß vermutlich Saddin, der Nomade, sein Kontakt. Niemand in Buchara kannte Saddins Familiennamen oder seine Herkunft. Man wusste nicht viel mehr über ihn, als dass er vor nunmehr fast drei Jahren plötzlich in Buchara aufgetaucht war. Über Nacht hatte er seine Zelte vor den Toren der Stadt aufgeschlagen und lagerte dort seit diesem Tag mit seinen Leuten, seinen Sklaven, seinen Kamelen – und seinen Pferden. Es waren die schönsten, edelsten Tiere, die man sich vorstellen konnte. Nuh II. selbst hatte dem Nomaden bereits ein paar Pferde abgekauft und jedes Mal ein halbes Vermögen bezahlt. Es hatte nicht lange gedauert, bis Gerüchte über Saddin im Umlauf waren. Die hartnäckigsten behaupteten, er sei ein verstoßener Prinz, der vor den Toren Bucharas darauf wartete, wieder in das Reich seines Vaters zurückkehren zu können. Dass der Nomade den Pferdehandel lediglich aus Liebhaberei betrieb und sein eigentliches Geschäft im Verborgenen führte, wussten nur wenige.
Gehorsam und geduldig wie ein Bittsteller niedriger Herkunft wartete Ahmad. Seine Hände waren zwar nicht gefesselt, dennoch behielt er vorsichtshalber die Kapuze auf dem Kopf. Allzu lebhaft erinnerte er sich noch an das erste Treffen, als er, ohne auf die entsprechende Erlaubnis zu warten, die Kapuze abgenommen hatte. Im selben Augenblick hatte ein Dolch nur um Haaresbreite seine linke Wange verfehlt.
Im Geiste sah er, wie Saddin mit überkreuzten Beinen vor ihm saß und sich über ihn amüsierte, ihn auslachte, wie er, Ahmad al-Yahrkun, der Großwesir und Spross einer der einflussreichsten Familien dieser Stadt, unterwürfig vor ihm stand – wie ein Falkenweibchen, das mit verhülltem Kopf auf den Beginn der Jagd und die befreiende Hand seines Herrn wartete. Er sah den Nomaden vor sich, wie er ihn mit spöttischem Lächeln betrachtete und so seine Geduld auf die Probe stellte. Ahmad verfluchte ihn für diese Grausamkeit. Doch er wollte auf keinen Fall riskieren, ein Ohr zu verlieren.
»Entschuldigt vielmals meine Unhöflichkeit, Ahmad«, erklang endlich, nach einer halben Ewigkeit, Saddins angenehme Stimme. »Ich war beschäftigt und daher in Gedanken. Verzeiht. Nehmt die Kapuze ab.«
Gehorsam löste Ahmad die Schnüre, die die Kapuze
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