Die Steine der Fatima
Zwerchfell zu schmerzen anfing. Der Stein hatte gesiegt.
Beatrice sah sich überrascht um. Der Stapel Kissen, der ihr gegenüberlag, war leer. Samira saß nicht mehr auf ihrem Platz. In der Messingschale lagen nur noch wenige erkaltete Kohlestückchen, die unter dem feinen gelben Sand hervorragten. Samira musste die Glut erstickt haben. Daneben stand der kleine Korb, der Deckel war geschlossen. Hatte sie etwa geschlafen und dabei diese wilden Sachen geträumt? Tatsächlich hatte Beatrice das Gefühl, aus einem lebhaften Traum erwacht zu sein, wenn da nicht der seltsame bittere Geschmack auf ihrer Zunge gewesen wäre und die zahlreichen Brandflecken auf dem Lehmboden.
Ein Geräusch ließ Beatrice herumfahren. In einer Ecke des Raums stand Samira und hantierte mit einem kupferfarbenen Kessel, der über einer Feuerstelle hing. Beatrice sah Samira an. Ihr selbst war übel, ihr Kopf hatte mindestens ein Volumen von einem Kubikmeter, und sie fror so erbärmlich, dass ihre Zähne klappernd aufeinanderschlugen. Die Alte hingegen schien überhaupt keine Nachwirkungen des Rausches zu spüren. Aber wahrscheinlich war sie an die Wirkung der Kräuter durch jahrzehntelangen regelmäßigen Gebrauch gewohnt, während Beatrice der Droge hilflos ausgeliefert gewesen war. Fasziniert beobachtete sie, wie Samira mit ruhigen Händen in zwei Gläser Tee einschenkte. Wer war diese alte, dicke, hässliche Frau? War sie wirklich eine Hexe?
Langsam und schwerfällig kam Samira näher. Sie war noch korpulenter, als es im Sitzen den Anschein gehabt hatte. Beatrice vermutete, dass sie mindestens hundertzehn Kilo wog. Sie watschelte heran wie eine gemästete Ente kurz vor dem Schlachttermin. Dennoch hatten ihre Bewegungen eine gewisse Grazie, und jeder ihrer Schritte wurde begleitet vom leisen Klingeln der Glöckchen an ihrem Rocksaum.
»Hier, trink«, sagte Samira mit einem freundlichen Lächeln und reichte Beatrice eines der Gläser. »Das wird dich wärmen und dir helfen, wieder einen klaren Kopf zu bekommen.«
Gehorsam nippte Beatrice an der dunklen Flüssigkeit. Der Tee war süß und stark und so heiß… dass sie sich fast die Zunge daran verbrannte. Schon nach wenigen Schlucken merkte sie, wie er ihre Glieder wärmte und ihr Kopf wieder auf sein normales Maß zusammenschrumpfte. Aber entgegen ihrer Erwartungen blieb die Erinnerung an ihren Traum. Ja, je mehr die körperlichen Nachwirkungen des Rausches von ihr abfielen, umso klarer sah sie alles wieder vor sich.
Samira wartete geduldig, bis Beatrice ihren Tee ausgetrunken hatte.
»Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, deine Fragen zu stellen«, sagte sie und lächelte Beatrice aufmunternd zu.
Beatrice runzelte die Stirn. Ihr gingen Hunderte von Fragen durch den Kopf. Am meisten interessierte sie die Bedeutung dessen, was sie im Rausch gesehen hatte. Aber sollte sie wirklich Samira danach befragen? Das war doch Quatsch! Das waren nichts anderes als Halluzinationen, hervorgerufen durch eine ihr unbekannte Droge. Die Alte würde sie nur auslachen.
»Was waren das für Kräuter, die du in der Räucherschale verbrannt hast?«, fragte Beatrice stattdessen.
Samira lachte. »Ich glaube nicht, dass es das ist, was du wirklich wissen willst. Du solltest mehr auf deine innere Stimme hören, Beatrice. Außerdem ist die Herkunft der Kräuter ein Geheimnis, das in meiner Familie seit Generationen von der Mutter auf die Tochter weitervererbt wird. Nicht einmal wenn ich wollte, dürfte ich es dir mitteilen. Stelle eine andere Frage.«
Beatrice dachte kurz nach. Es fiel ihr immer noch schwer zu glauben, dass dieser Hokuspokus ernst gemeint war. Sollte sie sich wirklich vor Samira zum Gespött machen, indem sie ihr von den Farben, den Spinnen und Käfern erzählte? Andererseits schien die Alte genau dafür bezahlt worden zu sein. Und unter Umständen konnte Samiras Deutung ganz amüsant werden.
»Ich habe eine Menge seltsamer Dinge gesehen«, sagte sie langsam. »Ich muss berauscht gewesen sein, denn etwas Derartiges ist mir noch nie passiert. Was hat das zu bedeuten?«
»Siehst du, das ist doch eine vernünftige Frage.« Samira nickte zufrieden. »Ich werde dir jetzt etwas erzählen. Nur wenige Menschen auf der Welt wissen überhaupt davon, und von denen sagen die meisten, es handle sich um ein Märchen, um eine Legende.« Samira faltete ihre dicken Hände auf ihrem Schoß. »Mohammed, unser Prophet, Allah sei gepriesen, hatte viele Kinder. Er war ihnen ein guter und liebevoller Vater. Aber von
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