Die steinernen Schatten - Das Marsprojekt ; 4
schon alles in sich zusammen.« Urs’ Mutter ließ die Klappe des Backofens zuknallen. »›Nur fünf Minuten‹? Dass ich nicht lache.«
»Wenn es nicht so gut duften würde, wäre es halb so schlimm«, meinte Urs.
Seine Mutter nickte finster. Sie rührte den Salat ein weiteres Mal um, sah wieder auf die Uhr, probierte erneut ein Blatt.
»Schmeckt schon ganz labberig. Also, so geht das nicht.« Wie vom Katapult geschnellt, schoss sie aus der Küche, riss die Tür zum Flur auf und rief: »Tom! Sono le nove! Vogliamo mangiare!«
Urs atmete geräuschvoll ein. Wenn Mutter diesen Tonfall draufhatte und dann auch noch ins Italienische fiel, leistete man besser keinen Widerstand.
Das wusste Vater natürlich auch. Er öffnete die Tür seines Arbeitszimmers und rief: »Sì, sì. Subito!«
Dann ging die Tür wieder zu.
Die Uhr sprang eine Minute weiter. Neun Uhr.
Mutter kam mit der Salatschüssel aus der Küche, knallte sie auf den Tisch. » Mangiamo. Wir essen.« Sie fing an, Wasser in die Gläser zu gießen.
Draußen ging wieder die Tür.
»…können die Nachrichtensperre nicht ewig aufrechterhalten«, war die erregte Stimme des holländischen Journalisten zu vernehmen. »Früher oder später kriegt die Erde mit, was sich hier abspielt. Und dann, Pigrato, sind Sie Ihren Job los, das garantiere ich Ihnen.«
»Prima«, hörte Urs seinen Vater knurrend erwidern. »Das kann ich sowieso kaum erwarten.«
Der Journalist entgegnete etwas, das man im Esszimmer nicht verstand, doch Vater unterbrach ihn: »Danke, Mister Van Leer, aber ich würde jetzt gerne zu Abend essen. Außerdem kennen Sie mein letztes Wort; wir brauchen also nicht weiter zu diskutieren.«
Endlich kam Vater herein. »Mi dispiace«, bat er um Entschuldigung. Er setzte sich und fuhr sich müde mit den Händen über das Gesicht. »Verstehe einer diesen Mann! Gerade Van Leer sollte doch wissen, was auf der Erde los wäre, wenn jetzt etwas von den Vorkommnissen hier auf dem Mars bekannt würde.«
Mutter verteilte den Auflauf, bei dessen Anblick Urs das Wasser im Mund zusammenlief. »Aber er hat nicht unrecht. Die Öffentlichkeit ist eine Sache, aber dass du nicht einmal die Regierung informierst, das wird man dir irgendwann vorhalten. Das kann dein zweites Venedig werden.«
Vater hielt seinen Teller hin. »Das Problem ist, dass überall in der Regierung Mitglieder und Sympathisanten der Heimwärtsbewegung sitzen. Wenn ich die Stellen informiere, die eigentlich zuständig wären, kann ich es auch gleich an die Nachrichtennetze geben. Hmm, das riecht aber gut.« Er schnupperte an dem, was da geheimnisvoll auf seinem Teller lag.
»Wieso Venedig?«, wollte Urs wissen. Das war so ein Stichwort, das zwischen seinen Eltern immer wieder mal fiel, ohne dass er bisher verstanden hätte, worum es ging. Seine Mutter war in Venedig geboren, das wusste er. Und die beiden hatten sich dort kennengelernt.
»Da hat sich dein Vater einmal so etwas Ähnliches erlaubt«, sagte Mutter. »Du warst damals noch nicht geboren.«
Vater schüttelte den Kopf. »Das war ein bisschen was anderes.«
»Du hast eigenmächtig gehandelt.«
»Immerhin habe ich gehandelt. Während alle anderen nur geredet haben.«
»Erzähl doch mal«, bat Urs.
Vater ließ sich den ersten Bissen auf der Zunge zergehen. »Ich nehme mal an, der Begriff Human Heritage Fund sagt dir etwas.«
»Klar. Der HHF. Die verwalten das Weltkulturerbe. Alte Städte, Kirchen, Buddha-Statuen und so weiter.«
»Genau. Eine Behörde der Weltregierung, die für die Erhaltung des kulturellen Erbes der Menschheit zuständig ist. Für die habe ich gearbeitet, ehe ich zur Raumfahrtbehörde gekommen bin.« Er trank einen Schluck Wasser. »Damals in Venedig war ich Technischer Leiter der Stadterhaltung. Was keine einfache Aufgabe ist, wenn es um Venedig geht. Die Stadt liegt in einer Lagune, mit den Füßen im Wasser gewissermaßen, und ist im Grunde seit Jahrhunderten gefährdet. Was man inzwischen in die Erhaltung dieser Stadt investiert hat, hätte ausgereicht, fünf neue Städte zu bauen.«
Urs nickte kauend. »Aber das wären eben neue Städte gewesen.«
»Genau. Also, das war …wann? 2070? 2069?« Er sah hilfesuchend zu Mutter.
Die runzelte die Stirn. »2069, glaube ich.«
»Logisch. Die Sturmflut 69, genau.« Er sah Urs an. »Du musst dir Folgendes vorstellen: Der Winter stand bevor. Man wusste, dass starke Stürme drohten. Die Hebewerke von zweien der verstellbaren Schutzdämme waren kaputt. Und ich hatte
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