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Die sterblich Verliebten

Die sterblich Verliebten

Titel: Die sterblich Verliebten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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nichts mehr daran verbessern kann und nun der Porträtierte selbst den Pinsel in der Hand hat. Der kann es retuschieren, kann Strich für Strich die Umrisse verändern und den ersten Künstler als Fälscher hinstellen. Oder als Verirrten, als schlechten Maler, oberflächlich und ohne Scharfblick. »Was für ein falsches Bild hat man mir vermittelt«, denkt womöglich der Betrachter. »Der Mann ist nicht, wie man ihn mir beschrieben hatte, er besitzt Tiefgang, Feuer, Format, Ernst.« Das geschieht tagtäglich, Miguel, am laufenden Band. Erst sehen die Leute das Eine, am Ende das Gegenteil. Zunächst liebt man, am Ende hasst man, Gleichgültigkeit wird zu Leidenschaft. Nie können wir sicher sein, was sich für uns als lebensnotwendig, wer sich für uns als wichtig erweisen wird. Unsere Überzeugungen sind schwankend und schwach, für so stark wir sie auch halten mögen. Ebenso unsere Gefühle. Wir sollten uns nicht für sie verbürgen.‹
    Deverne hätte vielleicht den verletzten Stolz herausgehört und nicht weiter darauf geachtet.
    ›Und dennoch‹, hätte er gesagt. ›Wenn ich es nicht für möglich halte, was spielt es für eine Rolle, wenn es nach meinem Tod doch möglich wird. Ich würde nichts davon erfahren. Ich wäre mit der Überzeugung gestorben, dass es diese Verbindung zwischen euch beiden nicht geben kann, und es zählt, was man selbst vorhersieht, denn was man im letzten Augenblick wahrnimmt und erlebt, ist das Ende der Geschichte, das Ende der eigenen Erzählung. Man weiß, dass alles ohne einen weitergeht, dass nichts aufhört, weil man fort ist. Aber dieses Danach betrifft einen nicht. Entscheidend ist, dass man selbst aufhört, und folglich bleibt alles stehen, die Welt ist unweigerlich so wie im Moment, in dem der Endende endet, auch wenn es tatsächlich ganz anders aussieht. Aber dieses »tatsächlich« spielt keine Rolle mehr. Man erlebt den einzigen Augenblick, in dem es keine Zukunft mehr gibt, in dem uns die Gegenwart als unabänderlich und ewig erscheint, weil wir nichts Tatsächlichem, keinem Wandel mehr beiwohnen werden. Manch einer hat versucht, eine Veröffentlichung voranzutreiben, damit sein Vater das gedruckte Buch noch sehen kann und sich mit der Vorstellung verabschiedet, sein Sohn sei ein gestandener Schriftsteller, was macht es schon, wenn er später keine einzige Zeile mehr verfasst. Manch verzweifelte Bemühung gab es, zwei Menschen kurzzeitig miteinander zu versöhnen, damit ein Sterbender glauben kann, sie hätten Frieden geschlossen und alles sei bereinigt und in Ordnung, was spielt es für eine Rolle, dass sich die Verfeindeten zwei Tage nach dessen Verscheiden wieder die Köpfe einschlagen, wichtig war nur, was unmittelbar vor dem Tod eingetreten und gewesen war. Manch einer spielt einem Sterbenden vor, ihm zu vergeben, damit er in Frieden oder beruhigter hinscheiden kann, was macht es schon, dass sich der Vergebende am nächsten Morgen im tiefsten Innern wünscht, er möge in der Hölle schmoren. Manch einer hat am Sterbebett wahnwitzig gelogen und Mann oder Frau geschworen, dass er nicht ein einziges Mal untreu gewesen, dass seine Liebe und Beständigkeit ohne Kratzer waren, was spielt es für eine Rolle, dass er einen Monat später schon mit seiner langjährigen Geliebten zusammenlebt. Wahr, ja endgültig ist nur das, was der Sterbende unmittelbar vor seinem Fortgang sieht oder glaubt, denn für ihn geht die Geschichte nicht weiter. Es liegt ein Abgrund zwischen dem, was der von seinen Feinden hingerichtete Mussolini glaubte, und dem, was Franco in seinem Bett glaubte, im Kreise seiner Lieben, vergöttert von seinen Landsleuten, was auch immer diese Heuchler heute sagen mögen. Von meinem Vater habe ich gehört, Francos Arbeitszimmer soll ein Foto geschmückt haben, das Mussolini zeigte, wie ein Schwein kopfüber aufgehängt vor der Tankstelle in Mailand, wo man seinen Leichnam und den seiner Geliebten Clara Petacci zur Verhöhnung ausgestellt hatte, und wenn es sich ein Besucher entsetzt oder verblüfft anschaute, pflegte er zu sagen: »Ja, schauen Sie nur: So werde ich nie abgehen.« Und er behielt recht, dafür hatte er gesorgt. Zweifellos starb er relativ glücklich und überzeugt, alles würde so weitergehen, wie er es vorgeschrieben hatte. Über diese gewaltige Ungerechtigkeit, über ihre Wut trösten sich viele mit dem Gedanken hinweg »wenn der wieder unter uns wandelte« oder »wenn der sähe, wie es heute steht, würde er sich im Grabe umdrehen«, und sie

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