Die sterblich Verliebten
seinem Platz war und nichts und niemand fehlte. Aber letztlich ist sie noch klein, eines Tages wird sie das alles abstreifen, ihr Leben leben, mit den tausenderlei Illusionen, die jedem Alter eigen sind. Sie wird ein normales Mädchen sein, gelegentlich mit einem Anflug von Schwermut. Gern wird sie sich in die Erinnerung an mich flüchten, wenn ihr etwas Kummer bereitet oder schiefgelaufen ist, aber das tun wir alle mehr oder weniger oft, suchen Zuflucht bei dem, was war und nicht mehr ist. Doch würde es ihr helfen, wenn eine wirkliche, lebendige Person meinen Platz, soweit möglich, einnehmen könnte, jemand, der Antwort gibt. Wenn sie eine Vaterfigur um sich hätte, die sie regelmäßig sieht und an die sie bereits gewöhnt ist. Für mich bist du am besten geeignet für diese Zweitbesetzung. Um Nicolás mache ich mir weniger Sorgen: Zwangsläufig wird er mich vergessen, er ist noch so klein. Aber gut täte es ihm auch, wenn du ihm bei seinen Problemen beispringen könntest, und die wird er bekommen, reichlich sogar, bei seinem Charakter. Doch am wenigsten wüsste sich Luisa zu fassen oder zu helfen. Sie mag wieder heiraten, aber sehr realistisch scheint mir das nicht zu sein, schon gar nicht bald, und je älter sie wird, desto schwieriger ist es. Ich denke mir, nach der ersten Verzweiflung und der Trauer, und beides zusammen wird lange dauern, wäre ihr dieser ganze Prozess einfach zu mühselig. Du weißt ja: jemand Neuen kennenlernen, ihm deine Lebensgeschichte erzählen, wenn auch in groben Zügen, sich den Hof machen lassen oder Präsenz zeigen, Anreize schaffen, Interesse bekunden, seine beste Seite vorführen, erklären, wie man selbst ist, sich anhören, wie der andere ist, Misstrauen überwinden, sich an jemanden gewöhnen und den anderen an sich gewöhnen, übersehen, was einem missfällt. All das würde ihr lästig fallen, wem nicht, genau betrachtet. Man macht einen Schritt, dann noch einen und noch einen. Das ermüdet und hat unweigerlich etwas Monotones, schon Durchgespieltes, für mich in meinem Alter wäre das nichts. Man glaubt es nicht, aber viele Schritte sind nötig, bis man erneut Fuß fasst. Nur schwer kann ich sie mir mit dieser Spur Neugier oder Erwartung vorstellen, von Natur aus ist sie nicht rastlos, nicht unzufrieden. Wenn sie es wäre, könnte sie eine gewisse Zeit nach dem Verlust allmählich den einen oder anderen Vorteil oder Ausgleich suchen. Ohne es sich einzugestehen, versteht sich, aber suchen würde sie. Den Schlussstrich unter eine Geschichte ziehen und eine neue anfangen, egal welche, wenn man dazu gezwungen ist, auf lange Sicht ist das gar nicht so bitter. So zufrieden man auch mit der war, die zu Ende ging. Ich habe untröstliche Witwer und Witwen gesehen, die lange Zeit glaubten, sie würden nie wieder auf die Beine kommen. Doch wenn sie sich gefasst und einen neuen Partner gefunden haben, scheint ihnen dieser letzte der wahre und gute zu sein, und insgeheim freuen sie sich, dass der vorige verschwunden ist, das Feld geräumt hat für das, was sie sich nun aufgebaut haben. Das ist die entsetzliche Macht der Gegenwart, die die Vergangenheit umso stärker erdrückt, je weiter sie sich entfernt, und sie sogar verfälscht, ohne dass die Vergangenheit den Mund aufmachen, protestieren, widersprechen oder Einspruch einlegen könnte. Gar nicht zu reden von diesen Männern oder Frauen, die es nicht wagen, den Partner zu verlassen, nicht wissen wie oder fürchten, zu viel Schaden anzurichten: Diese wünschen sich heimlich, dass der andere stirbt, sähen ihn lieber tot, als sich dem Problem zu stellen und es auf vernünftige Weise zu lösen. Absurd, aber so ist es: Im Grunde wünschen sie ihm nichts Böses, ja versuchen ihn durch ihr persönliches Opfer, ihr angestrengtes Schweigen davor zu bewahren (wünschen es ihm aber doch, denn er soll ihnen nicht mehr unter die Augen kommen, was das größte, endgültigste Übel ist), sie wollen nur nicht die Verursacher sein, wollen sich nicht verantwortlich für jemandes Unglück fühlen, nicht einmal für das derer, die uns durch ihre bloße Nähe quälen, durch das Band, das sie fesselt und das sie durchtrennen könnten, wenn sie nur mutig wären. Da sie es aber nicht sind, phantasieren und träumen sie von etwas so Radikalem wie dem Tod des anderen. »Welch einfache Lösung, welch Erleichterung«, denken sie, »ich hätte nichts damit zu tun, würde ihm keinerlei Schmerz oder Kummer zufügen, er oder sie würde nicht um meinetwillen leiden,
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