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Die sterblich Verliebten

Die sterblich Verliebten

Titel: Die sterblich Verliebten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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warum nicht morgen, und von morgen geht es zu übermorgen und überübermorgen. So leben wir alle, Zufriedene wie Unzufriedene, Glückliche oder Unglückliche, wenn es nach uns ginge, bis zum Ende aller Zeiten.« Ich dachte, dass er da etwas durcheinanderbrachte oder versucht hatte, mich durcheinanderzubringen. Die Mörderhand ist nicht die
unsere
, es sei denn, sie wird tatsächlich zu unserer, jedenfalls gehört sie immer jemandem, der sie ›die meine‹ nennt. Wem sie auch gehört, sie will gerade nicht, dass kein Lebender jemals zum Toten wird, sondern wünscht sich genau das Gegenteil, kann nicht warten, dass der Zufall ihr zur Hand geht oder die Zeit die Arbeit abnimmt; sie verhilft selbst von einem Zustand in den anderen. Sie will eben nicht, dass alles immerzu weitergeht, muss jemanden beseitigen, muss Schluss machen mit so mancher Angewohnheit. Nie würde sie über ihr Opfer sagen
she should have died hereafter,
sondern
he should have died yesterday:
›er hätte gestern sterben sollen‹ oder vor Jahrhunderten, vor noch längerer Zeit; wäre er doch nie geboren worden, hätte keinerlei Spur in der Welt hinterlassen, dann hätte ich ihn nicht töten müssen. Der Parkeinweiser machte Schluss mit seinen eigenen Angewohnheiten und schlagartig mit denen Devernes, Luisas und der Kinder, beinahe auch mit denen des Chauffeurs, den womöglich eine Verwechslung rettete, um ein Haar; auch mit denen von Díaz-Varela, ja zum Teil auch mit den meinen. Und mit denen anderer Menschen, die ich nicht kenne. Aber nichts davon sagte ich, wollte nicht das Wort ergreifen, nicht sprechen, wollte, dass er weitersprach. Ich wollte seine Stimme hören, seinen Geist ergründen, seine Lippen in Bewegung sehen. Fast lief ich Gefahr, nichts von dem Gesagten mitzubekommen, weil ich sie wie hypnotisiert anstarrte. Er trank noch einen Schluck und fuhr nach einem Räuspern fort, als hätte er erst seine Gedanken ordnen müssen. »Das Erstaunliche ist, wenn das geschieht, wenn die Unterbrechungen, die Todesfälle eintreten, dann befindet man das Geschehene über kurz oder lang meist für gut. Versteh mich richtig. Nicht, dass jemand einen Todesfall für gut befände, schon gar keinen Mord. Solche Dinge beklagt man das ganze Leben lang, wann immer sie stattgefunden haben mögen. Aber was das Leben bringt, behält am Ende immer die Oberhand und mit solcher Macht, dass wir uns selbst auf Dauer kaum ohne all das vorstellen können, ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, kaum vorstellen können, dass etwas Eingetretenes nicht eingetreten wäre. ›Mein Vater wurde im Krieg getötet‹, könnte jemand voll Bitterkeit erzählen, voll Kummer oder Wut. ›Eines Nachts haben sie ihn geholt, ihn aus dem Haus getrieben und in ein Auto gesteckt, ich habe gesehen, wie er sich wehrte, wie sie ihn fortschleiften. Sie haben ihn an den Armen gezogen, als wären seine Beine plötzlich gelähmt und trügen ihn nicht mehr. Sie haben ihn vor die Stadt gebracht, ihm dort einen Nackenschuss verpasst und in den Straßengraben geworfen, damit der Anblick seines Leichnams anderen eine Lehre sei.‹ Wer so etwas erzählt, bedauert es zweifellos zutiefst, ja kann sein Leben lang den Hass auf die Mörder nähren, einen allumfassenden, abstrakten Hass, wenn er nicht genau weiß, wer sie waren, wie sie hießen, was häufig vorkam im Bürgerkrieg, man wusste bloß, dass es ›die anderen‹ gewesen waren, so oft. Nun macht aber eine derart verhasste Tatsache ein Stück weit diesen Jemand aus, niemals könnte er sie abstreifen, weil er sich sonst selbst verleugnen, weil er auslöschen müsste, was er ist, ohne einen Ersatz dafür zu haben. Er ist der Sohn eines im Krieg brutal ermordeten Mannes, ist ein Opfer der spanischen Gewalt, eine tragische Waise; das formt, definiert und bedingt ihn. Das ist seine Geschichte oder der Ausgangspunkt seiner Geschichte, sein Ursprung. In gewisser Weise kann er sich gar nicht wünschen, es wäre nicht geschehen, denn wäre es nicht geschehen, wäre er ein anderer, wer, das weiß er nicht, hat nicht die geringste Ahnung. Er hat kein Bild, keine Vorstellung davon, weiß nicht, wie er geworden wäre und wie er sich mit einem lebendigen Vater verstanden, ob er ihn gehasst, ihn geliebt hätte oder ob er ihm gleichgültig gewesen wäre, und vor allem hat er keine Vorstellung von sich selbst ohne diesen unterschwelligen Kummer und Groll, die ihn stets begleitet haben. Die Macht der Tatsachen ist so entsetzlich, dass jeder am Ende mehr oder

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