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Die sterblich Verliebten

Die sterblich Verliebten

Titel: Die sterblich Verliebten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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ja fast täglich, oder?«
    Nun wirkte er etwas verärgert, schwieg ein paar Sekunden. Mir kam der Gedanke, dass er mich vielleicht bloß hatte aushorchen wollen, im Glauben, ich stünde mit ihr in Verbindung, und nun war sein Annäherungsversuch sinnlos geworden, bevor er überhaupt begonnen hatte, mit einem ironischen Zusatz: Er würde jetzt mir Aufschluss und Nachricht über sie geben müssen.
    »Nicht so gut«, antwortete er endlich, »allmählich mache ich mir Sorgen. Natürlich ist es so lange noch nicht her, aber sie spricht auf nichts an, kommt keinen Millimeter voran, will einfach nicht nach vorn schauen, und sei es nur flüchtig, blickt nie um sich, will nicht sehen, was ihr alles geblieben ist. Nach dem Tod des Mannes bleibt den Frauen doch einiges; ja, in ihrem Alter noch ein ganzes Leben. Die meisten Witwen richten den Blick bald wieder nach vorn, vor allem die jüngeren, die sich um Kinder kümmern müssen. Aber es ist nicht bloß wegen der Kinder, die schon bald keine mehr sind. Wenn sie nur erkennen könnte, wie es in ein paar Jahren in ihrem Innern aussehen wird, vielleicht schon in einem Jahr, würde sie feststellen, dass Miguels Bild, das sie jetzt noch unaufhörlich heimsucht, mit jedem Tag unschärfer, ja, schon ganz schmal geworden ist, und dass neue Neigungen nur noch Raum dafür lassen, sich sporadisch an ihn zu erinnern, mit einer Ruhe, die sie heute erstaunen würde, mit unverändertem Kummer, doch ohne große Beklemmung. Denn sie hätte neue Neigungen, und ihre erste Ehe wird ihr am Ende fast wie geträumt erscheinen, als schwankende, matte Erinnerung. Was ihr heute als tragische Anomalie erscheint, wird zu ihrer Normalität werden, unabänderlich, ja wünschenswert sogar, denn es ist nun mal eingetreten. Heute kann sie nicht akzeptieren, dass Miguel nicht mehr ist, aber der Augenblick wird kommen, an dem gerade unbegreiflich wäre, dass es ihn wieder gibt, dass er wieder da ist; an dem allein die Phantasievorstellung vom wundersamen Wiedererscheinen, von der Auferstehung, der Rückkehr, unerträglich wäre, denn sie hätte ihm inzwischen einen endgültigen Platz zugewiesen, ein Gesicht, das sich in der Zeit zur Ruhe gesetzt hat, und würde nicht dulden, dass sein fertiges, fixes Bild sich abermals den Wandlungen dessen unterwirft, was lebendig bleibt und somit unberechenbar. Gern wünschen wir, dass niemand stirbt, nichts zu Ende geht von dem, was uns begleitet und liebe Angewohnheit ist, merken jedoch nicht, dass Angewohnheiten einzig dann unversehrt bleiben, wenn man sie uns mit einem Schlag nimmt, ohne dass sie abdriften oder sich entwickeln können, ohne dass sie uns verlassen oder wir sie. Was dauert, verdirbt und verrottet am Ende, langweilt, wendet sich gegen uns, macht überdrüssig, müde. Wie viele Menschen, die uns unverzichtbar erschienen, bleiben auf der Strecke, wie viele verschleißen wir, zu wie vielen bröckelt die Verbindung ab, scheinbar ohne Grund, geschweige denn, eines gewichtigen. Nur auf die können wir bauen, nur die enttäuschen uns nicht, die man uns entreißt, nur die lassen wir nicht fallen, die gegen unseren Willen verschwinden, urplötzlich, und somit keine Zeit hatten, uns zu missfallen oder zu ernüchtern. Wenn das geschieht, verzweifeln wir vorübergehend, denn wir glauben, wir hätten sie noch lange an unserer Seite gehabt, ohne ihnen eine Frist zu setzen. Das ist ein Irrtum, wenn auch ein verständlicher. Das Fortwähren verändert alles, und was gestern noch wunderbar war, wird morgen eine Qual gewesen sein. Wir alle reagieren auf den Tod eines Nahestehenden ähnlich wie Macbeth auf die Nachricht von dem seiner Frau, der Königin:
She should have died hereafter,
antwortet er etwas rätselhaft: ›Sie hätte hiernach sterben sollen‹, heißt das, oder ›fortan‹. Man kann es auch platt und weniger zweideutig bloß als ›später‹ verstehen, als ›sie hätte ein bisschen warten, hätte durchhalten sollen‹; jedenfalls meint er, ›nicht gerade in diesem Augenblick, nicht im auserwählten‹. Und was wäre der auserwählte Augenblick? Kein Moment erscheint uns der richtige zu sein, immer denken wir, was uns gefällt oder erfreut, uns erleichtert oder hilft, was uns durch die Tage zieht, hätte noch ein wenig länger dauern können, ein Jahr, ein paar Monate, ein paar Wochen, ein paar Stunden, immer scheint es uns zu früh zu sein, dass etwas oder jemand an sein Ende gelangt, niemals sehen wir den geeigneten Augenblick, in dem wir uns sagen könnten:

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