Die sterblich Verliebten
Mich dagegen wird niemand sterben sehen, dem ich wirklich wichtig bin, niemand wird mich im Ganzen schildern können, also bleibe ich im Grunde unvollendet, da die anderen sich nicht sicher sein können, dass ich nicht ewig weiterlebe, denn sterben haben sie mich nicht gesehen.«
Er neigte stark zum Vortragen, Abhandeln, Abschweifen, wie nicht wenige Autoren, die ich im Verlag getroffen habe, man könnte meinen, sie hätten noch nicht genug daran, Blatt für Blatt mit ihren Einfällen, ihren Geschichten zu füllen, die, wenn nicht absurd, dann eitel, wenn nicht schaurig, dann peinlich sind, Ausnahmen bestätigen die Regel. Aber Díaz-Varela war nicht eigentlich Schriftsteller, und in seinem Fall störte es mich nicht, ja es erging mir immer wieder wie vor dem Kiosk neben dem Museum, bei unserer zweiten Begegnung, ich konnte während seiner Monologe nicht die Augen von ihm wenden, seine tiefe, wie nach innen gewandte Stimme bezauberte mich, die Wellen seiner oft willkürlich aneinandergereihten Satzglieder, das alles schien bisweilen keinem menschlichen Wesen zu entströmen, sondern einem Musikinstrument, das keinerlei Sinn übermittelt, einem leichthändig gespielten Klavier etwa. Nun war ich jedoch neugierig, mehr über Oberst Chabert und Madame Ferraud zu erfahren und vor allem, warum ihm die Novelle in Bezug auf Luisa recht gab, wie er sagte, auch wenn ich schon meine Vermutungen hatte.
»Gut, aber was geschah mit dem Obersten?«, unterbrach ich ihn und sah, dass er es nicht übelnahm, er war sich seiner Veranlagung bewusst und vielleicht dankbar, wenn man ihn bremste. »Nahm ihn die Welt der Lebenden auf, in die er zurückkehren wollte? Und seine Frau? Gelang es ihm, erneut zu existieren?«
»Was geschah, tut nichts zur Sache. Es ist eine Erzählung, ihre Begebenheiten sind einerlei und vergessen, wenn man an ihr Ende gelangt. Interessant sind die Möglichkeiten und Ideen, die uns solche Werke mit ihren imaginären Fällen einimpfen und eingeben, sie prägen sich deutlicher ein als die tatsächlichen Ereignisse, auf sie achten wir mehr. Was mit dem Obersten passiert ist, kannst du selbst herausfinden, es täte dir gut, ab und an etwas anderes als zeitgenössische Autoren zu lesen. Ich leihe dir das Buch, wenn du magst, oder liest du nicht auf Französisch? Die Übersetzung, die es gibt, ist schlecht. Kaum jemand kann noch richtig Französisch.« Er war im Lycée Français zur Schule gegangen; wir hatten uns wenig aus unserem Leben erzählt, doch das hatte er mich wissen lassen. »Wichtig ist hier nur, dass die Wiederkehr dieses Chabert ein gewaltiges Unheil ist. Vor allem natürlich für seine Frau, die wieder Fuß gefasst hat und nun ihr neues Leben führt, in dem kein Platz für ihn ist oder nur als Vergangenheit, als Ehemaliger, als Erinnerung, immer schwächer, als Toter, tot und begraben in einer namenlosen, fernen Grube, zusammen mit anderen Gefallenen jener Schlacht bei Eylau, an die sich zehn Jahre später niemand mehr erinnert oder erinnern will, unter anderem, weil der, der sie geschlagen hat, nun verbannt ist und auf Sankt Helena versauert, jetzt regiert Ludwig XVIII ., und der erste Akt jedes Regimes besteht im Vergessen, Bagatellisieren, Auslöschen des vorherigen, dessen Anhänger nun zu verrotteten Nostalgikern abgestempelt werden, denen nur noch bleibt, still und leise zu verkümmern und zu sterben. Der Oberst weiß von Anfang an, dass sein unerklärliches Überleben ein Fluch für die Gräfin ist, die seine anfänglichen Briefe nicht erwidert, ihn nicht sehen, nicht das Risiko eingehen will, ihn wiederzuerkennen, und darauf vertraut, dass es sich um einen Geisteskranken oder Schwindler handelt oder dass ihn Müdigkeit, Verbitterung und Verzweiflung zur Aufgabe zwingen werden. Oder, als sie ihn partout nicht mehr verleugnen kann, darauf, dass er zu den Schneefeldern zurückkehrt und stirbt, ein weiteres Mal, ein letztes. Endlich treffen sie sich und reden miteinander, und der Oberst, der keinen Grund gefunden hat, sie nicht weiterzulieben während seiner langen Verbannung von der Erde und all der Strapazen, die es mit sich bringt, ein Verstorbener zu sein, stellt ihr die Frage«, und Díaz-Varela suchte ein weiteres Zitat in dem Bändchen, diesmal ein so kurzes, dass er es bestimmt auswendig gewusst hätte: »›Tun die Toten schlecht daran, zurückzukehren?‹, oder (wie man es auch verstehen könnte): ›Sind die Toten im Unrecht, wenn sie zurückkehren?‹ Auf Französisch heißt es:
Les
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