Die sterblich Verliebten
hingehören, nichts darf da geändert werden. Uns nach ihnen zu sehnen, lassen wir zu, weil wir dabei kein Risiko eingehen: Wir haben jemanden verloren, und da wir wissen, dass er nicht mehr auftauchen, den geräumten Platz nicht mehr einfordern wird, der schnell wieder besetzt wurde, sind wir frei, mit aller Kraft seine Rückkehr zu wünschen. Wir vermissen ihn so seelenruhig, weil sich unsere erklärten Wünsche nie erfüllen werden und keine Rückkehr möglich ist, weil er nicht mehr in unser Leben eingreifen wird noch in den Lauf der Welt, weil er uns nicht mehr einschüchtern, einengen, ja nicht einmal in den Schatten stellen kann, weil er nie mehr besser sein wird als wir. Aufrichtig beklagen wir seinen Fortgang, haben wahrhaftig damals, als er ging, gewünscht, er hätte weitergelebt; wahrhaftig tat sich damals eine entsetzliche Lücke, ein Abgrund auf, und wir waren versucht, ihm hinterherzustürzen, für einen Augenblick. Ganz genau, für einen Augenblick, nur selten wird man dieser Versuchung nicht Herr. Dann verstreichen die Tage, die Monate und Jahre, wir finden uns ab, gewöhnen uns an die Lücke und erwägen nicht einmal die Möglichkeit, dass der Tote zurückkommen könnte, um sie auszufüllen, denn das ist nicht der Toten Sache, wir sind sicher vor ihnen, und außerdem wurde die Lücke zugedeckt, ist also keine mehr, ist nur noch fiktiv. An die, die uns am nächsten standen, erinnern wir uns täglich, werden noch immer traurig bei dem Gedanken, dass wir sie nie mehr sehen, nie mehr hören, nicht mehr mit ihnen lachen werden und die nicht mehr küssen, die wir einst küssten. Aber es gibt keinen Tod, der nicht in irgendeiner Hinsicht auch Erleichterung verschaffte oder einen Vorteil böte. Erst, wenn er eingetreten ist, versteht sich, im Voraus wünscht man keinen herbei, vermutlich nicht einmal den eines Feindes. Man trauert zum Beispiel um den Vater, beerbt ihn jedoch, bekommt sein Haus, sein Geld, seinen Besitz, und müsste alles zurückgeben, wenn er wiederkehrte, und geriete in arge Verlegenheit, in quälende Angst. Man trauert um seine Frau, seinen Mann, aber manchmal erkennen wir, auch wenn es etwas dauern mag, dass wir glücklicher, bequemer ohne sie leben, wieder von neuem beginnen können, falls wir nicht zu alt dafür sind: mit der gesamten Menschheit zu unserer Verfügung, wie in frühster Jugend; mit freier Auswahl, ohne dabei die alten Fehler zu begehen; erlöst von all ihren oder seinen Eigenschaften, die uns missfielen, denn immer missfällt etwas an dem, der fortwährend da ist, neben, vor, hinter uns und vis-à-vis, die Ehe umkreist, die Ehe umringt. Man trauert um den großen Schriftsteller, den großen Künstler bei seinem Tod, aber eine gewisse Freude schwingt mit, weil man weiß, dass die Welt nun eine Spur gewöhnlicher, erbärmlicher geworden ist und unsere eigene Gewöhnlichkeit und Erbärmlichkeit somit weniger deutlich, weniger auffällig, da dieser Mensch nicht mehr hier ist, dessen Gegenwart uns vergleichsweise so mittelmäßig aussehen ließ, man weiß, dass sich das Talent einen weiteren Schritt von unserer Erde entfernt hat, weiter in Richtung Vergangenheit entgleitet, die es niemals verlassen, in die es ewig verbannt bleiben sollte, damit es uns nur rückblickend kränken kann, was weniger verletzt und sich leichter ertragen lässt. Ich rede von der Mehrheit, nicht von allen, versteht sich. Aber diese Freude spricht auch aus der Haltung der Journalisten, die in ihren Schlagzeilen schreiben ›Das letzte Klaviergenie ist tot‹ oder ›Die letzte Filmlegende geht dahin‹, als feierten sie jubelnd, dass es dergleichen endlich nicht mehr gibt noch geben wird; dass uns der jeweilige Tod vom universalen Albtraum befreit, vom Wissen, dass es hervorragendere, talentiertere Menschen gibt, die wir widerwillig bewundern; und so vertreiben wir diesen Fluch ein wenig, dämpfen ihn ab. Und natürlich trauert man um den Freund, wie ich um Miguel getrauert habe, aber auch darin schwingt das angenehme Gefühl des Überlebens, der privilegierten Perspektive mit, denn man kann dem Tod des anderen beiwohnen, nicht umgekehrt, kann sein Gesamtbild betrachten, seine abgeschlossene Geschichte erzählen, sich um die hilflosen Hinterbliebenen kümmern, sie trösten. Mit jedem Freund, der stirbt, fühlt man sich abgekapselter, einsamer, doch zugleich subtrahiert man ständig: Einer weniger, noch einer, ich weiß Bescheid über sie, bis zu ihrem letzten Augenblick, ich kann noch davon erzählen.
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