Die sterblich Verliebten
nachgelassen, haben nicht etwa getäuscht, waren nicht falsch vom ersten Augenblick an. Bei Leopoldo hatte es nie eine Spur solchen Bemühens gegeben, auch dieses zielstrebige, naive, bedingungslose Lieben nicht; bei Díaz-Varela dagegen schon, auf den ich mich mit ganzer Seele stürzte – allerdings besonnen, ich fiel ihm nicht zur Last, ließ es ihn kaum merken –, obwohl ich von vornherein wusste, dass er nicht wiederlieben konnte, dass er seinerseits im Dienst Luisas stand und notgedrungen schon lange Zeit auf seine Gelegenheit wartete.
Ich nahm mir Balzacs Novelle mit (ja, ich kann Französisch), weil er sie gelesen und mir davon erzählt hatte, und wie sollte ich mich nicht für das interessieren, was ihn interessiert hatte, wenn ich in der Phase der Verliebtheit war, in der sie noch eine Offenbarung ist. Auch aus Neugier: Ich wollte herausbekommen, was mit dem Obersten geschehen war, wenn ich auch schon vermutete, dass es kein gutes Ende nahm, dass er weder seine Frau noch sein Vermögen oder seine Würde zurückerobert und sich womöglich nach dem Zustand des Leichnams zurückgesehnt hatte. Noch nie hatte ich etwas von diesem Autor gelesen, einer der vielen berühmten Namen, denen ich mich wie so vielen anderen niemals genähert hatte, die Arbeit in einem Verlag hindert einen paradoxerweise fast gänzlich daran, alles Wertvolle kennenzulernen, was die Literatur hervorgebracht und die Zeit in wundersamer Weise geadelt und mit dem Recht versehen hat, einen winzigen Moment zu überdauern, der mit jedem Mal winziger wird. Außerdem wollte ich zu gern wissen, warum sie Díaz-Varela aufgefallen war und ihn beschäftigt, ihn zu seinen Reflexionen veranlasst hatte, warum er sie als Beweis dafür heranzog, dass die Toten tot am besten aufgehoben sind und niemals zurückkehren dürfen, selbst wenn ihr Tod zur Unzeit kommt und so ungerecht, sinnlos, willkürlich und unselig ist wie der von Desvern, und selbst wenn dieses Risiko ihrer Rückkehr gar nicht bestehen kann. Als fürchtete er, im Fall seines Freundes sei eine solche Auferstehung möglich, und als wollte er mich und sich selbst davon überzeugen, wie falsch sie wäre, wie unangebracht, ja wie schlecht die Lebenden mit dieser Rückkehr fahren würden und nicht minder der Verstorbene, so hatte Balzac den überdauernden, gespenstischen Chabert ironisch genannt, und wie viel überflüssiges Leid das allen bringen würde, als könnten die tatsächlichen Toten noch leiden. Ebenso hatte ich den Eindruck, Díaz-Varela wollte unbedingt die pessimistische Weltsicht des Anwalts Derville unterschreiben und bestätigen, seine düsteren Gedanken über die grenzenlose Bereitschaft des Durchschnittsmenschen (von dir, von mir) zum Verbrechen, zur Habgier, zum Entschluss, seine schäbigen Interessen vor jede andere Regung zu schieben, ob Mitleid, Zuneigung, ja sogar Angst. Als wollte er anhand einer Novelle beweisen – nicht anhand einer Chronik, nicht anhand von Annalen oder eines Geschichtsbuchs –, sich durch sie davon überzeugen, dass die Menschheit von Natur aus und von jeher so gewesen ist, dass es kein Entkommen gibt und man sich von ihr nichts anderes erhoffen darf als ein Höchstmaß an Niedertracht, Verrat und Grausamkeit, Wortbruch und Täuschung, die in jeder Zeit, an jedem Ort hervorkeimen und sich zeigen, ohne Vorbilder, ohne imitierbare Muster zu benötigen, bloß vollziehen sie sich meistens im Geheimen, verborgen, verstohlen, kommen nie ans Licht, nicht einmal nach hundert Jahren, gerade weil dann niemand mehr ergründet, was vor so langer Zeit geschehen ist. Und wenn er es auch nicht ausgesprochen hatte, ließ sich unschwer folgern, dass er nicht einmal viele Ausnahmen, sah man von ein paar naiven Zeitgenossen ab, für möglich hielt, die aber vielleicht gar keine waren, sondern im Grunde nur Mangel an Phantasie und Kühnheit, an materiellen Mitteln, um den Raub oder das Verbrechen durchzuführen, oder es war bloß unsere eigene Unwissenheit, die Unkenntnis dessen, was die Menschen getan, geplant oder angestiftet hatten, alles eine gelungene Vertuschung.
Als ich ans Ende der Novelle, zu Dervilles Worten gelangte, die mir Díaz-Varela aus dem Stegreif auf Spanisch vorgetragen hatte, fiel mir auf, dass ihm womöglich ein Übersetzungsfehler unterlaufen war, oder vielleicht hatte er da etwas ungewollt oder absichtlich missverstanden, um sich noch mehr im Recht zu fühlen; vielleicht war es sein Wunsch, sein Entschluss gewesen, etwas aus dem Text
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