Die sterblich Verliebten
Jahrhunderte getrennt, so dass sie einander nicht haben anstecken können, wenn doch so viele verbrochen werden, früher wie heute; was gewissermaßen noch entmutigender ist als ein Massaker, das ein einziger Mann, ein einziger Geist befiehlt, den wir immer als unmenschliche, unselige Ausnahme ansehen können: der einen ungerechten, gnadenlosen Krieg erklärt, zu einer grausamen Verfolgung, zu einer vollständigen Vernichtung aufruft oder einen
Dschihad
entfesselt. So grausam das ist, es ist nicht das Schlimmste oder nur der Menge nach. Das Schlimmste ist, dass so viele unterschiedliche Individuen in jeder Zeit, jedem Land, jedes auf eigene Faust, eigenes Risiko, jedes mit seinen persönlichen, nicht übertragbaren Gedanken und Zielen, übereinstimmend zu denselben Mitteln greifen, zu Diebstahl, Betrug, Mord oder Verrat an Freunden, Kollegen, Geschwistern, Eltern, Kindern, Ehemännern, Ehefrauen oder Geliebten, die sie loswerden wollen. An denen, die sie früher wahrscheinlich am meisten geliebt haben, für die sie seinerzeit ihr Leben gegeben oder jeden getötet hätten, der sie bedrohte, ja sie hätten sich womöglich gegen sich selbst gestellt, wenn sie sich in der Zukunft gesehen hätten, wie sie ihnen eigenhändig den letzten Stoß versetzen wollen, den sie nun gleich führen werden, ohne Reue, ohne Schwanken. Darauf bezieht sich Derville: ›Wir sehen nur Mal um Mal die gleichen niedrigen Triebe, nichts kann sie bessern, unsere Kanzleien sind Kloaken, die niemand mehr reinigen kann … Ich kann gar nicht schildern, was ich alles gesehen habe …‹« Díaz-Varela zitierte diesmal aus dem Gedächtnis und hielt inne, vielleicht, weil er nicht weiterwusste, vielleicht, weil ein Fortfahren zu nichts führte. Er schaute wieder auf den Buchumschlag, auf dem das Gesicht eines Husaren abgebildet war, wie mir schien, mit Adlernase, verlorenem Blick, langem, gebogenem Schnurrbart und Tschako, vermutlich von Géricault; und als schüttele er selbst diesen verlorenen Blick ab und erwache aus einer Träumerei, fügte er hinzu: »Die Novelle ist ziemlich berühmt, das hatte ich gar nicht gewusst. Sie wurde sogar dreimal verfilmt, stell dir vor.«
Wenn jemand verliebt ist, vor allem eine Frau und zudem erst seit kurzem, die Verliebtheit also noch den Reiz der Offenbarung besitzt, können wir uns meist für jede Sache interessieren, die den interessiert oder die der uns erzählt, den wir lieben. Wir täuschen es nicht nur vor, um zu gefallen, um zu erobern oder unseren prekären Platz zu behaupten, das zwar auch, sondern schenken ihm echte Aufmerksamkeit, lassen uns tatsächlich von allem anstecken, was er fühlen und vermitteln mag, von Begeisterung, Widerwillen, Sympathie, Furcht, Sorge, ja selbst von Besessenheit. Und erst recht folgen wir ihm in seinen improvisierten Reflexionen, die am meisten fesseln und mitreißen, denn wir wohnen ihrer Geburt bei, helfen ihnen auf die Sprünge, sehen, wie sie sich recken, schwanken, stolpern. Auf einmal begeistern uns Dinge, an die wir noch nie einen Gedanken verloren hatten, wir eignen uns unvermutete Manien an, achten auf Details, die wir nie bemerkt hatten und auch bis ans Ende unserer Tage übergangen hätten, lenken unsere Energien auf Fragen, die uns nur stellvertretend betreffen oder mittels Verzauberung, mittels Ansteckung, als hätten wir beschlossen, auf einer Leinwand, einer Bühne, in einem Roman zu leben, in einer fremden, fiktiven Welt, die uns in sich hineinzieht und uns mehr beschäftigt als unsere wirkliche, die wir zeitweise ruhen oder im Hintergrund lassen und uns zugleich von ihr erholen (nichts ist verlockender, als sich einem anderen hinzugeben, und sei es nur in der Vorstellung, uns seine Probleme zu eigen zu machen, in sein Dasein einzutauchen, das nicht das unsere ist, und sich allein schon dadurch leichter ertragen lässt). Es mag übertrieben sein, doch wir stellen uns zu Anfang in den Dienst dessen, den wir partout lieben wollen, oder zumindest zu seiner Verfügung, und die meisten von uns tun das ohne Hintergedanken, das heißt, ohne zu wissen, dass der Tag kommen wird, sofern wir bei ihm Fuß fassen und festen Boden spüren, an dem er uns enttäuscht und verblüfft ansieht, da er feststellen muss, dass uns in Wirklichkeit nicht kümmert, was uns zuvor tief bewegte, dass uns langweilt, was er uns erzählt, ohne dass er die Themen gewechselt oder diese an Interesse verloren hätten. Wir haben dann nur in unserem anfänglichen Liebesüberschwang
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