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Die sterblich Verliebten

Die sterblich Verliebten

Titel: Die sterblich Verliebten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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Ehe Tropfen eingaben, die seinen Tod herbeiführen mussten, damit das Kind ihrer Liebe reich wurde. Ich kann gar nicht schildern, was ich alles gesehen habe, denn ich sah Verbrechen, gegen die die Justiz machtlos ist. Kurz, alle Schrecken, die die Dichter zu erfinden glauben, bleiben hinter der Wahrheit zurück. Sie werden diese hübschen Dinge noch kennenlernen, ich überlasse sie ihnen; ich ziehe mich mit meiner Frau aufs Land zurück, mir graut vor Paris.‹«
    Díaz-Varela schloss das Bändchen und wahrte das kurze Schweigen, das jedem Ende gebührt. Er schaute mich nicht an, hielt den Blick starr auf den Buchdeckel gerichtet, als sei er unschlüssig, ob er ihn wieder öffnen, von neuem anfangen sollte. Ich konnte nicht umhin, noch einmal nach dem Obersten zu fragen:
    »Und wie endete Chabert? Vermutlich schlecht, wenn der Schluss so pessimistisch ist. Doch ist das eine recht enge Weltsicht, das gibt die Figur selbst zu: die eines der drei Menschen, die die Welt nicht achten können, des Unglücklichsten dazu. Zum Glück gibt es noch viele andere, und die meisten weichen von diesen drei ab.«
    Er antwortete nicht. Anfangs schien mir sogar, dass er mich gar nicht gehört hatte.
    »So endet die Novelle«, sagte er. »Oder fast: Balzac lässt diesen Godeschal noch einen Satz hinterherschicken, der nichts zur Sache tut und dieser Weltsicht, die ich dir gerade vorgelesen habe, fast die Kraft nimmt; nun gut, ein belangloser Defekt. Die Novelle wurde 1832 geschrieben, vor hundertachtzig Jahren, allerdings verlegt Balzac das Gespräch der beiden Anwälte, des altgedienten und des angehenden, seltsamerweise ins Jahr 1840, das damals noch Zukunft war und von dem er nicht einmal sicher sein konnte, ob er es lebend erreichen würde, als wüsste er gewiss, dass sich nichts ändern würde, weder in den nächsten acht Jahren, noch jemals. Wenn das sein Fazit war, sollte er recht behalten. Die Dinge sind heute nicht nur genau so, wie er sie damals beschrieb, ja schlimmer noch, frag einen beliebigen Anwalt. Nein, sie waren schon immer so. Die Zahl der ungesühnten Verbrechen übersteigt bei weitem die der bestraften; von den unbekannten, verborgenen ganz zu schweigen, deren Zahl ist zwangsläufig unendlich höher als die der bekannten und verbürgten. Im Grunde ist es nur natürlich, dass Derville und nicht Chabert die Aufgabe zufällt, von den Schrecken der Welt zu reden. Letztlich verhält sich ein Soldat noch relativ fair, man weiß, was sein Geschäft ist, er betrügt und täuscht nicht, und sein Handeln gehorcht nicht nur Befehlen, sondern auch der Notwendigkeit: Auf dem Spiel steht sein Leben oder das des Feindes, der es ihm nehmen will oder sich vielmehr in derselben Verlegenheit befindet wie er. Der Soldat handelt gewöhnlich nicht aus eigenem Antrieb, empfindet weder Hass noch Groll noch Neid, ihn bewegt nicht lang gehegte Habgier oder persönlicher Ehrgeiz, ihm fehlt es an Motiven, sieht man von einem schwammigen, phrasenhaften, hohlen Patriotismus ab, sofern den überhaupt noch jemand empfindet oder sich davon überzeugen lässt: Zu Zeiten Napoleons kam das noch vor, heute dagegen selten, diese Art Mensch ist so gut wie ausgestorben, zumindest in unseren Ländern mit ihren Söldnerheeren. Ja, das Gemetzel des Krieges ist entsetzlich, aber wer daran teilnimmt, führt es nur aus, plant es nicht, nicht einmal die Generäle oder Politiker haben das Planen gänzlich in der Hand, sie haben eine immer abstraktere, unwirklichere Vorstellung von diesem Abschlachten und wohnen ihm selbstverständlich nicht bei, heute weniger denn je; als schickten sie Zinnsoldaten, deren Gesichter sie nie sehen, an die Front oder zum Bombardieren oder als legten sie sich, im heutigen Fall, ein Computerspiel ein. Die Verbrechen des zivilen Lebens dagegen durchrieseln einen mit Schauern, mit Grauen. Vielleicht gar nicht um ihrer selbst willen, denn sie fallen weniger auf, kommen dosiert, verteilen sich, eins hier, eins dort, tröpfchenweise, so dass sie weniger zum Himmel schreien, keine Protestwellen aufwerfen, auch wenn sie nie abreißen: Wie denn auch, da die Gesellschaft seit Menschengedenken mit ihnen lebt, von ihnen geprägt ist. Dafür jedoch um ihrer Bedeutung willen. Bei ihnen sind immer individuelles Wollen und persönliche Motive im Spiel, jedes wurde von einem einzigen Geist erdacht und ertüftelt, höchstens von einer Handvoll, wenn es um eine Verschwörung geht; und wie viele dieser Geister muss es geben, durch Kilometer, Jahre und

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