Die sterblich Verliebten
herauszulesen, was nicht darin stand, und durch seine irrtümliche Interpretation, beabsichtigt oder nicht, zu untermauern, was er hatte unterschreiben und unterstreichen wollen, nämlich wie erbarmungslos die Menschen waren, in diesem Fall die Frauen. Er hatte folgendermaßen zitiert: »Ich sah, wie Frauen dem Kind der ersten Ehe Tropfen eingaben, die seinen Tod herbeiführen mussten, damit das Kind ihrer Liebe reich wurde.« Bei diesem Satz war mir das Blut in den Adern gefroren, denn die Vorstellung will nicht in unseren Kopf, dass eine Mutter bei ihren Kindern Unterschiede macht, dazu noch im Hinblick darauf, wer der Vater ist, wie sehr sie ihn geliebt, gehasst oder unter ihm gelitten hat, ja dass sie sogar fähig ist, dem ersten Sprössling zugunsten ihres Lieblings den Tod zu bringen, ihm voller Tücke Gift einzuflößen, sein blindes Vertrauen in den Menschen auszunutzen, der ihn auf die Welt gebracht, ihn sein ganzes Leben lang ernährt, umsorgt und gepflegt hat, vielleicht in Form von heilsamen Hustentropfen. Aber das Original lautete anders, in der Novelle war nicht zu lesen:
J’ai vu des femmes donnant à l’enfant d’un premier lit des gouttes qui devaient amener sa mort …
sondern
des goûts
, was nicht ›Tropfen‹, sondern ›Geschmäcker‹ heißt, auch wenn es hier anders übersetzt werden müsste, da es zumindest zweideutig wäre und Verwirrung stiften würde. Zweifellos war Díaz-Varelas Französisch besser als meines, wenn er aufs Lycée gegangen war, aber ich wagte den Gedanken, dass Balzacs Worten besser etwas in dieser Art entsprach: »Ich habe gesehen, wie Frauen dem Kind aus erster Ehe Vorlieben (oder vielleicht ›Neigungen‹) einpflanzten, die seinen Tod befördern mussten, damit das Kind ihrer Liebe reich wurde.« Genaugenommen war der Satz auch in dieser Version nicht besonders klar, es war nicht gerade allzu leicht zu erraten, was genau Derville meinte. Ihm Vorlieben eingeben oder einpflanzen, die seinen Tod befördern? Etwa den Suff, das Opium, das Glücksspiel, eine kriminelle Gesinnung? Den Geschmack am Luxus, ohne den er nicht mehr auskäme, so dass er ihn durch Straftaten möglich machte, eine krankhafte Lüsternheit, die ihn Infektionen aussetzte oder zur Vergewaltigung drängte? Ein so ängstlicher, schwacher Charakter, der ihn beim ersten Missgeschick in den Selbstmord triebe? Ja, es war undurchsichtig, fast rätselhaft. Einerlei, was es war, auf wie lange Sicht sich dieser gewünschte, ertüftelte Tod auch einstellen sollte, wie viel Zeit und beständigen Aufwand der Plan auch brauchte. Zugleich hätte die Mutter in diesem Fall ein weit höheres Maß an Perversität erreicht, als wenn sie ihrem Erstgeborenen bloß heimlich Todestropfen eingeflößt hätte, die vielleicht nur ein wissbegieriger, hartnäckiger Arzt hätte entdecken können. Es besteht ein Unterschied, ob man jemanden zum Verderben und zum Tod erzieht oder ihn einfach nur umbringt, auch wenn wir üblicherweise das Zweite für schwerwiegender, verwerflicher halten, weit mehr entsetzt uns die Gewalt, weit mehr empört uns die unmittelbare Tat, oder womöglich lassen sie keinen Raum für Zweifel oder Entschuldigungen, wer sie ausübt oder begeht, kann sich hinter nichts verschanzen, kann keinen Fehler, keinen Unfall, keine falsche Berechnung, keinen Irrtum anführen. Aber eine Mutter, die ihr Kind zugrunde richtet, die es absichtlich verzieht oder auf die falsche Bahn lenkt, könnte angesichts der unheilvollen Folgen sagen: ›O je, das habe ich nicht gewollt. Du meine Güte, wie ungeschickt ich war, wie hätte ich so etwas ahnen können? Ich habe alles nur aus lauter Liebe getan, in bester Absicht. Wenn ich ihn so sehr bemuttert habe, bis er ein Feigling wurde, wenn ich jeder seiner Launen nachgab, bis er verdarb und zum Tyrannen wurde, dann hatte ich immer nur sein Bestes im Sinn. Wie blind, wie unglückselig war ich.‹ Ja, am Ende könnte sie das sogar selbst glauben, während sie unmöglich derlei denken oder sich einreden könnte, wenn der Sprössling von ihrer Hand, durch ihr Werk, im von ihr gewählten Augenblick gestorben wäre. Es ist etwas ganz anderes, den Tod direkt zu verursachen, sagt der, der nicht zur Waffe greift (und unwillkürlich folgen wir seinem Gedankengang), als ihn in die Wege zu leiten und zu warten, dass er von alleine kommt und einem in den Schoß fällt, oder als ihn zu wünschen oder zu befehlen, und manchmal vermischen sich Wunsch und Befehl und sind für die nicht mehr zu
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