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Die sterblich Verliebten

Die sterblich Verliebten

Titel: Die sterblich Verliebten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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dem Fall ermöglicht sie, uns die Gefühle eines Toten vorzustellen, der sich zur Rückkehr gezwungen sieht, und zeigt uns, warum sie nicht zurückkehren dürfen. Außer geistig verwirrten oder sehr alten Leuten bemüht sich ein jeder, ob früher oder später, sie zu vergessen. Er vermeidet es, an sie zu denken, und wenn er einmal nicht anders kann, wird er verdrießlich, traurig, hält inne, die Tränen fließen, und er kann erst weitermachen, wenn er den düsteren Gedanken abschüttelt oder die Erinnerung erstickt. Langfristig, da mach dir nichts vor, wenn nicht gar mittelfristig, schüttelt jeder seine Toten ab, das ist ihr letztendliches Los, und es ist anzunehmen, dass auch sie damit einverstanden sind und, nachdem sie ihren neuen Zustand kennengelernt und ausprobiert haben, ebenso wenig zur Rückkehr bereit wären. Wer sich aus dem Leben zurückgezogen und von ihm abgewandt hat, sosehr es auch gegen seinen Willen, etwa durch Mord, und zu seiner größten Pein geschah, würde sich nicht wieder eingliedern wollen, nicht wieder einlassen auf die gewaltige Mühsal der Existenz. Sieh mal, Oberst Chabert hat unvergleichliche Leiden hinter sich, hat erlebt, was wir alle für die größten Schrecken halten, die des Krieges; man denkt sich, keiner könnte jemandem Unterricht im Entsetzlichen erteilen, der in einer unmenschlichen Kälte an so gnadenlosen Schlachten teilgenommen hat wie der bei Eylau, und das war nicht seine erste gewesen, sondern seine letzte; dort traten zwei Armeen von jeweils fünfundsiebzigtausend Mann gegeneinander an; genau weiß man nicht, wie viele starben, aber es waren wohl nicht unter vierzigtausend, vierzehn Stunden oder länger wurde gekämpft und obendrein um recht wenig: Die Franzosen bemächtigten sich des Felds, doch es war nicht mehr als eine gewaltige Schneefläche mit aufgehäuften Leichen, und das russische Heer zog sich zwar in elendem Zustand zurück, vernichtet war es jedoch nicht. Die Franzosen waren so mitgenommen und erschöpft, so steif vor Kälte, dass sie vier Stunden lang, die Nacht war schon hereingebrochen, nicht einmal merkten, dass der Feind sich klammheimlich davonmachte. Sie wären nicht in der Lage gewesen, ihm nachzusetzen. Es heißt, am nächsten Morgen soll Marschall Ney über das Feld geritten sein, und es kam nur ein einziger Kommentar aus seinem Mund, in dem sich Schrecken, Ekel und Missbilligung mischten: ›Welch Gemetzel! Und ohne Ergebnis.‹ Trotz alledem ist es nicht der Soldat Chabert, sondern der Anwalt Derville, der nie eine Reiterattacke, eine Bajonettwunde oder die Verwüstungen einer Kanonenkugel zu Gesicht bekam, der sein ganzes Leben in der Kanzlei oder auf dem Gericht verbracht hat, fern von jeder physischen Gewalt und ohne Paris kaum je verlassen zu haben, welcher es sich am Ende der Novelle erlaubt, uns über die Schrecken zu berichten und zu belehren, deren Zeuge er während seiner Laufbahn war, einer zivilen Laufbahn, nicht im Krieg beschritten, sondern im Frieden, nicht an der Front, sondern in der Nachhut. Er sagt zu seinem früheren Schreiber Godeschal, der nun als Anwalt anfängt: ›Wissen Sie, mein Lieber, dass es in unserer Gesellschaft drei Arten von Mensch gibt, die die Welt nicht achten können, den Priester, den Arzt und den Rechtsgelehrten? Sie tragen schwarze Roben, vielleicht weil sie um alle Tugenden, um alle Illusionen trauern. Der Unglücklichste von den dreien ist der Anwalt.‹ Wenn der Mensch, erklärt er ihm, den Priester aufsucht, treiben ihn die Reue, die Gewissensbisse, der Glaube, der ihn erhebt und interessant macht und gewissermaßen die Seele des Mittlers tröstet. ›Wir Anwälte dagegen‹«, und hier las mir Díaz-Varela den letzten Abschnitt der Novelle auf Spanisch vor, übersetzte vom Blatt, denn eine eigene Version konnte er ja kaum vorbereitet haben, »›wir sehen nur Mal um Mal die gleichen niedrigen Triebe, nichts kann sie bessern, unsere Kanzleien sind Kloaken, die niemand mehr reinigen kann. Was habe ich in meinem Beruf nicht alles gesehen! Ich sah einen Vater bettelarm auf einem Heuboden sterben, verlassen von seinen beiden Töchtern, denen er eine Rente von vierzigtausend Pfund gestiftet hatte! Ich sah Testamente brennen, sah Mütter ihre Kinder berauben, Männer ihre Frauen bestehlen, Frauen ihre Männer umbringen, indem sie sich der von ihnen erweckten Liebe bedienten, um sie irr oder blöde zu machen, damit sie ungestört mit einem Liebhaber leben konnten. Ich sah, wie Frauen dem Kind der ersten

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