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Die sterblich Verliebten

Die sterblich Verliebten

Titel: Die sterblich Verliebten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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war er ›Javier‹ und sein Name Gegenstand der Anbetung, wie bei allem, was man nicht erlangen kann. Ja, wenn schon ich zu dieser Art Überlegung neigte, wie sollte ihm nicht das Gleiche eingefallen sein, solange Deverne das Hindernis war. Ein Teil von Díaz-Varela hätte sich Tag für Tag sehnlich gewünscht, dass sein Herzensfreund stürbe, sich in Luft auflöste, und eben dieser Teil oder ein größerer sogar hätte bei der Nachricht seines unerwarteten Messertodes jubiliert, sowenig er auch mit ihm zu tun gehabt hätte. ›Welch ein Unglück, welch ein Glück‹, hätte er vielleicht gedacht, als er davon erfuhr. ›Wie leid es mir tut, wie ich mich freue, so ein furchtbares Geschick, dass Miguel gerade in dem Moment dort sein musste, als diesen Menschen die Mordlust überkam, es hätte jedem passieren können, sogar mir, und er hätte sonst wo sein können, weshalb hat es ausgerechnet ihn getroffen, so ein glückliches Geschick, dass er mir aus dem Weg geschafft wurde und das Feld geräumt ist, das ich für immer besetzt glaubte, und ohne dass ich es im Geringsten befördert hätte, nicht einmal durch Unterlassung, Achtlosigkeit oder einen dieser Zufälle, die man dann rückblickend verflucht, weil man den anderen nicht lang genug aufgehalten, nicht daran gehindert hat, zu gehen, wohin er ging, denn das wäre nur möglich gewesen, wenn ich ihn an dem Tag gesehen hätte, aber ich hatte ihn weder gesehen noch gesprochen, wollte ihn später anrufen, um ihm zu gratulieren, so ein Unheil, so ein Segen, so eine glückliche Fügung, so ein Grauen, so ein Verlust, so ein Gewinn. Und mir kann man nichts zum Vorwurf machen.‹
    Nie wachte ich morgens bei ihm auf, verbrachte nie eine Nacht an seiner Seite, lernte nicht die Freude kennen, dass sein Gesicht das Erste war, was meine Augen in der Frühe sahen; doch einmal oder mehrmals schlief ich unabsichtlich in seinem Bett ein, am Nachmittag oder wenn es schon dunkel wurde, ein kurzer, doch tiefer Schlaf nach der zufriedenen Erschöpfung, die mir dieses Bett verschaffte, wer weiß, ob uns beiden, denn nie kann man sicher sein, ob einem die Wahrheit gesagt wird, nie Gewissheit über etwas haben, was nicht von einem selbst kommt, wer weiß, ob überhaupt. Das besagte Mal – es war das letzte – erreichte mich im Unterbewusstsein ein Klingeln, ich hob leicht die Lider, den Bruchteil eines Augenblicks, und sah ihn neben mir sitzen, bereits vollkommen angekleidet (immer zog er sich gleich wieder an, als wollte er sich an meiner Seite nicht eine Minute der müden, zufriedenen Trägheit der Liebenden nach dem Zusammensein gestatten), er las im Schein der Nachttischlampe, reglos wie auf einem Foto, das Kopfkissen im Rücken, ohne auf mich zu achten oder sich um mich zu kümmern, also wurde ich nicht richtig wach. Es klingelte wieder, zwei-, dreimal, immer anhaltender, aber es störte mich nicht, ich verpflanzte es in meinen Traum, in der Gewissheit, dass es mich nicht betraf. Ich regte mich nicht, öffnete kein Auge mehr, obwohl ich merkte, dass Díaz-Varela beim dritten oder vierten Klingeln mit einem stillen, schnellen Seitwärtsschwung vom Bett glitt. Ihn betraf es, mich keinesfalls, niemand wusste, dass ich dort war (von allen Orten der Welt ausgerechnet in diesem Bett). Mein Bewusstsein begann sich trotz allem zu regen, wenn auch noch immer im Schlaf. Ich war auf der Überdecke eingeschlafen, halbnackt oder so weit entkleidet, wie er es gewollt hatte, und jetzt merkte ich, dass er mich zugedeckt hatte, damit ich nicht fror, oder vielleicht, damit er meinen Körper nicht länger sehen musste und es nicht ganz so offenkundig war, was er gerade mit mir getan hatte, für ihn änderte sich nichts nach den Zärtlichkeiten, er tat, als hätten sie nicht stattgefunden, so überschwänglich sie auch gewesen waren, sein Umgang mit mir war vorher wie nachher der gleiche. Reflexartig zog ich die Decke enger um mich, wodurch ich noch wacher wurde, auch wenn ich die Augen weiterhin geschlossen hielt, halb schlafend, halb auf ihn horchend, da er das Zimmer verlassen hatte, mir entglitten war.
    Jemand stand unten am Hauseingang, denn ich hörte Díaz-Varela nicht die Tür öffnen, sondern seine gedämpfte Stimme, die in die Sprechanlage sprach, Worte, die ich nicht verstand, nur den Tonfall, halb überrascht, halb verärgert, dann resigniert nachgebend, wie jemand, der widerwillig etwas in Kauf nimmt, was ihm gegen den Strich geht, doch leider betrifft. Nach ein paar Sekunden – oder

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