Die sterblich Verliebten
wenn sie auf ewig in unseren Gedanken, unserem Bewusstsein verrotten, verfault, kompakt, stinkend wie die Pest. Doch das lässt sich ertragen, damit lässt sich leben. Wer schleppt nicht so etwas mit sich herum.
»Javier, darüber hatten wir schon gesprochen. Ich habe dir gesagt, dass ich nichts gehört habe, und mein Interesse an dir geht nicht so weit, wie du glaubst …«
Er unterbrach mich, fächelte sich mit halb erhobener Hand zu (›komm mir nicht mit diesem Märchen‹, sagte die Hand, ›komm mir nicht mit Firlefanz‹), ließ mich nicht fortfahren. Nun lächelte er eine Spur herablassend oder vielleicht selbstironisch, da er sich in dieser vermeidbaren Lage sah, so unvorsichtig gewesen war.
»Gib dir keine Mühe. Halt mich nicht für dumm. So ungeschickt ich auch gewesen bin. Ich hätte mit Ruibérriz hinuntergehen müssen. Natürlich hast du uns gehört: Als du ins Wohnzimmer kamst, wolltest du nicht gewusst haben, dass noch jemand da ist, hattest dir aber den Büstenhalter angezogen, um dich vor den Augen eines Fremden wenigstens minimal zu bedecken, nicht, weil dir kalt war oder aus sonst einem spitzfindigen Grund, und schon beim Öffnen der Tür warst du rot angelaufen. Du hast dich nicht etwa wegen dem geschämt, was du angetroffen hast, sondern warst schon von ganz allein beschämt wegen dem, was du tun würdest, dich halbnackt vor jemand Unerwünschtem zu zeigen, den du noch nie gesehen hattest; aber du hattest ihn reden hören, und nicht über irgendetwas, nicht über Fußball oder übers Wetter, stimmt’s?« Er hat es gemerkt, wie ich befürchtet hatte, dachte ich flüchtig. Nichts haben meine Maßnahmen, meine kleinen Kniffe, meine naiven Vorkehrungen genutzt. »Deine Überraschungsmiene war nicht schlecht, aber so gut auch wieder nicht. Und das Offensichtlichste: Auf einmal hattest du Angst vor mir. Ich hatte dich vertrauensvoll und ruhig im Bett zurückgelassen; sogar zärtlich und zufrieden, wie mir schien. Du warst friedlich eingeschlafen, und nach dem Aufwachen, nachdem du wieder allein mit mir warst, hattest du plötzlich Angst vor mir; dachtest du, das würde ich nicht merken? Immer merken wir, wenn wir Angst einflößen. Ihr Frauen vielleicht nicht, vielleicht erweckt ihr so selten welche, dass ihr das Gefühl nicht kennt, nun gut, bei Kindern schon: die könnt ihr in Angst und Schrecken versetzen. Ich finde es ganz und gar nicht angenehm, auch wenn viele Männer es lieben und darauf anlegen, ein Gefühl der Stärke, der Überlegenheit, der momentanen, trügerischen Unverwundbarkeit. Mich stört es sehr, wenn man mich als Bedrohung empfindet. Ich spreche von der physischen Angst, versteht sich. Angst anderer Art erweckt ihr Frauen sehr wohl. Eure Ansprüche machen Angst. Eure Hartnäckigkeit macht Angst, die oft nur Verblendung ist. Eure Empörung macht Angst, dieser moralische Eifer, der euch überfällt, manchmal ohne den geringsten Anlass. Seit zwei Wochen musst du mir gegenüber so etwas empfinden. Ich kann es dir in deinem Fall nicht übelnehmen. In deinem Fall war es verständlich, du hattest einen Grund. Der nicht völlig falsch war. Nur zur Hälfte.« Er machte eine Pause, fuhr sich mit der Hand ans Kinn, streichelte es abwesend (zum ersten Mal wandte er die Augen von mir), als dächte er tatsächlich oder fragte sich ehrlich, was er sogleich aussprach: »Ich verstehe nur nicht, weshalb du dich gezeigt hast, weshalb du herausgekommen und das Risiko eingegangen bist, dass geschieht, was nun geschieht. Hättest du dich ruhig verhalten und mich im Bett erwartet, wäre ich davon ausgegangen, dass du uns nicht gehört, nichts erfahren hast, dass alles beim Gleichen geblieben ist, im Allgemeinen und zwischen uns beiden. Obwohl ich deine Angst vermutlich ebenso bemerkt hätte, früher oder später, damals wie heute. Die lässt sich nicht abstellen, wenn sie einmal in der Welt ist, lässt sich nicht verstecken.«
Er hielt inne, nahm noch einen Schluck, steckte sich eine weitere Zigarette an, stand auf und ging zweimal durchs Wohnzimmer, dann baute er sich hinter mir auf. Sein Aufstehen hatte mich erschreckt, er hatte bemerkt, wie ich zusammengefahren war, und als er ein paar Sekunden reglos stehenblieb, die Hände auf Höhe meines Kopfes, blickte ich mich sogleich um, als wollte ich ihn nicht aus den Augen verlieren, ihn nicht hinter meinem Rücken haben. Da drehte er den Handteller nach außen, als wäre das Offensichtliche erwiesen. (›Siehst du?‹, sagte die Hand. ›Es gefällt
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