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Die sterblich Verliebten

Die sterblich Verliebten

Titel: Die sterblich Verliebten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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Gesicht … Noch zahlloser sind die, um die niemand sich kümmert, die nicht einmal untersucht werden, da von vornherein die Mühe vergeblich erscheint, und frisch begangen, legt man sie schon zu den Akten; und am zahllosesten die, die gar keine Spur hinterlassen, die nicht registriert, nie entdeckt werden, die unbekannten. Von all diesen hat es zweifellos schon immer welche gegeben, und vielleicht wurden viele Jahrhunderte lang nur die bestraft, die Vasallen, Arme und Enterbte begingen, und straffrei blieben – Ausnahmen vorbehalten – die der Reichen und Mächtigen, allgemein und oberflächlich betrachtet. Aber man hielt den Schein der Gerechtigkeit aufrecht, gab zumindest äußerlich, zumindest theoretisch vor, sie allesamt zu verfolgen, und gelegentlich versuchte man es auch, empfand als ›anstehend‹, was noch nicht aufgeklärt worden war, im Gegenteil zu heute: Bei allzu vielen Fällen weiß man, dass sie sich nicht aufklären lassen, ja dass man es nicht einmal will, sondern denkt, es lohnte nicht die Mühe, die Tage, das Risiko. Wie fern sind die Zeiten, in denen man Anklagen höchst feierlich vortrug und Urteile kaum ohne ein Zittern in der Stimme fällte, wie Athos es zweimal mit seiner Frau Anne de Breuil getan hatte, einmal, als sie jung war, und dann, als sie es nicht mehr war: Beim zweiten Richtspruch war er nicht allein, sondern in Begleitung der anderen drei Musketiere Porthos, d’Artagnan und Aramis sowie Lord de Winters, denen er das Richten übertrug, und ebenso war da ein vermummter Mann in rotem Umhang, der sich als der Henker von Lille entpuppte, derselbe, der vor einer Ewigkeit – gleichsam in einem anderen Leben, bei einem anderen Menschen – Mylady die schändliche Lilie eingebrannt hatte. Jeder Einzelne sprach seine Anklage aus, die er mit einer heute unvorstellbaren Wendung einleitete: »Vor Gott und den Menschen klage ich diese Frau an, dass sie vergiftet und gemordet hat, morden ließ, mich zum Mord trieb, den Tod durch eine seltsame Krankheit herbeigeführt hat, Sakrileg beging, gestohlen und verdorben hat, zum Verbrechen angestiftet …« »Vor Gott und den Menschen.« Nein, unsere Zeit ist keine feierliche mehr. Anschließend fragte Athos, vielleicht ein vorgetäuschter Selbstbetrug, als glaubte er vergebens, dass diesmal nicht er sie richtete und verdammte, einen nach dem anderen, welche Strafe sie für diese Frau forderten. Worauf einer nach dem anderen erwiderte: »Die Todesstrafe, die Todesstrafe, die Todesstrafe, die Todesstrafe.« Nachdem er das Urteil vernommen hatte, wandte sich Athos als Zeremonienmeister an die Frau und sagte: »Anne de Breuil, Gräfin de la Fère, Mylady de Winter, Eure Verbrechen haben die Menschen auf Erden und Gott im Himmel ermüdet. Wenn Ihr ein Gebet wisst, sprecht es nun, denn Ihr seid verurteilt und müsst sterben.« Wer diese Szene in der Kindheit oder frühen Jugend gelesen hat, wird sich immer an sie erinnern, sie niemals vergessen, ebenso wenig die folgende: Der Henker band Hände und Füße der Frau, die immer noch »schön wie die Liebe« war, packte sie an den Armen und führte sie zu einem Kahn, mit dem er über den nah gelegenen Fluss zum anderen Ufer übersetzte. Während der Überfahrt hatte Mylady den Strick an ihren Füßen lösen können, und als sie landeten, ergriff sie die Flucht, glitt jedoch aus und fiel auf die Knie. Da gab sie sich wohl verloren, denn sie versuchte nicht mehr aufzustehen, sondern verharrte gebeugten Hauptes, die Hände gefaltet, wir wissen nicht, ob vor oder hinter dem Rücken, wie damals, vor Jahrhunderten, als man sie in früher Jugend zum ersten Mal umgebracht hatte. Der Henker von Lille hob sein Schwert, ließ es niederfallen und machte so dem lebendigen Wesen ein Ende, um es endgültig in Erinnerung zu verwandeln, gleichviel, ob verzehrend oder nicht. Dann nahm er seinen roten Mantel ab, breitete ihn auf dem Boden aus, legte den verkürzten Körper darauf, warf den Kopf dazu, knüpfte den Umhang an seinen vier Enden zusammen. Er lud sich das Bündel auf die Schulter und stieg damit wieder in den Kahn. Auf dem Rückweg, in der Mitte des Flusses, wo er am tiefsten war, versenkte er es. Die Richter sahen vom Ufer aus, wie es unterging, wie sich das Wasser kurz auftat und wieder schloss. Aber das ist eine Erzählung, wie Javier mir auf meine Frage gesagt hatte, was mit Chabert passiert sei: »Was geschah, tut nichts zur Sache, ihre Begebenheiten sind einerlei und vergessen, wenn man an ihr Ende

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