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Die sterblich Verliebten

Die sterblich Verliebten

Titel: Die sterblich Verliebten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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dir gar nicht, wenn du nicht weißt, wo ich bin. Vor ein paar Wochen hätten dich meine Bewegungen in deiner Nähe nicht im Geringsten beunruhigt: Du hättest sie nicht einmal beachtet.‹) Tatsächlich gab es keinerlei Grund für mein Erschrecken, für meine Unruhe, keinen wirklichen. Díaz-Varela sprach ruhig und höflich, weder gereizt noch aufbrausend, ja schimpfte nicht einmal wegen meiner Indiskretion, stellte mich nicht zur Rede. Vielleicht war gerade das befremdlich, dass er auf diese Art mit mir über ein schweres Verbrechen sprach, über einen indirekt begangenen oder von ihm ersonnenen Mord, etwas, worüber man nicht unbefangen spricht, zumindest früher nicht, in einer noch nicht allzu fernen, jüngeren Vergangenheit: Wenn früher derlei offenbart oder gestanden wurde, gab es keine Erklärungen, keine Erörterungen, keine ruhigen Gespräche, keine Analysen, sondern Entsetzen, Zorn, Tumult, Geschrei, heftige Anklage, oder man griff zu einem Strick und hängte den geständigen Mörder an einem Baum auf, welcher seinerseits zu fliehen versuchte und bei Bedarf wieder tötete. Wie merkwürdig ist unsere Zeit, dachte ich. Über alles darf man reden, alle Welt hört man an, was sie auch getan haben mag, und nicht nur, um ihr Gelegenheit zur Verteidigung zu geben, sondern als wäre der Bericht ihrer Gräuel an sich schon von Interesse. Dazu gesellte sich ein anderer Gedanke, der mich selbst verwunderte: Diese Schwäche ist uns wesentlich. Aber es liegt nicht in meiner Macht, gegen sie anzugehen, denn auch ich gehöre dieser Zeit an, bin nicht mehr als ein Bauer auf dem Brett.

Es war zwecklos, weiter zu leugnen, wie Díaz-Varela anfangs gesagt hatte. Er hatte schon zu viele dunkle Andeutungen gemacht (»mein Fehler war es«, »ich hätte mit Ruibérriz hinuntergehen müssen«, »du hattest einen Grund, der nicht völlig falsch war, nur zur Hälfte«), dass mir keine Wahl blieb, als zu fragen, wovon zum Teufel er redete, wenn ich auf meiner Haltung beharren wollte. Selbst wenn ich mich darauf versteifte, dass all das überraschend für mich war und ich keine Ahnung hatte, was er meinte, kam ich nicht davon: Ich würde nach seiner Geschichte fragen, sie anhören müssen, noch einmal von Anfang an. Besser, ich gab mein Wissen zu und ersparte mir Wiederholungen und vielleicht die eine oder andere übertriebene Erfindung. Unangenehm würde es ohnehin werden, war es bereits. Je kürzer sein Bericht, desto besser. Vielleicht würde es eine ganze Abhandlung werden. Ich wollte fort, wagte nicht einmal den Versuch, rührte mich nicht.
    »Gut, ich habe zugehört. Aber nicht bei allem, was ihr gesprochen habt, und nicht die ganze Zeit über. Genug allerdings, um Angst vor dir zu bekommen, was hast du denn erwartet. Nun hast du also Gewissheit, bisher konntest du dir nicht vollkommen sicher sein, jetzt schon. Was willst du tun? Weshalb hast du mich herbestellt, um es dir zu bestätigen? Du warst doch schon mehr als überzeugt davon, wir hätten den Dingen ihren Lauf lassen können, ohne uns weitere Brandmale zuzufügen, um mit deinen Worten zu sprechen. Wie du siehst, habe ich nichts unternommen, habe es niemandem erzählt, nicht einmal Luisa. Sie wäre wohl die Letzte, der ich es erzählen würde. Wer am unmittelbarsten betroffen ist, will oft am wenigsten Bescheid wissen, die Nächsten etwa: die Kinder über das, was die Eltern getan haben, die Eltern über das, was die Kinder getan haben … Ihnen eine Enthüllung aufzwingen«, ich zögerte, wusste nicht, wie den Satz beenden, machte einen Schnitt und vereinfachte, »das ist zu viel Verantwortung. Für jemanden wie mich.« Letztlich bin ich die junge Besonnene, dachte ich. Für Desvern hatte ich keinen anderen Namen. »Von mir hattest du also kaum etwas zu befürchten. Du hättest zulassen sollen, dass ich zur Seite trete, mich aus deinem Leben zurückziehe, schweigend und diskret, wie ich hineingekommen und darin verblieben bin, wenn von Verbleiben die Rede sein kann. Nichts hat uns je verpflichtet, uns wiederzusehen. Für mich war jedes Mal das letzte, nie habe ich mit dem nächsten gerechnet. Bis auf weiteres, bis auf Widerruf, du hast immer das Heft in der Hand gehabt, die Initiative ergriffen. Es ist noch Zeit, mich einfach gehenzulassen, ich weiß nicht, was ich hier überhaupt soll.«
    Er tat ein paar Schritte, änderte seine Position, stand nicht länger hinter mir, setzte sich aber nicht wieder neben mich, sondern blieb stehen, verschanzte sich hinter einem

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