Die sterblich Verliebten
gelangt. Interessant sind die Möglichkeiten und Ideen, die uns solche Werke mit ihren imaginären Fällen einimpfen und eingeben, sie prägen sich deutlicher ein als die tatsächlichen Ereignisse, auf sie achten wir mehr.« Das stimmt nicht, oder gut, oftmals stimmt es, aber nicht immer vergisst man, was geschah, weder in einem Roman, den fast alle Welt kannte oder kennt, selbst die, die ihn nie gelesen haben, noch in der Wirklichkeit, wenn das Geschehen uns selbst geschieht und zu unserer Geschichte wird, die so oder so enden kann, ohne dass irgendein Romancier sie diktierte oder sonst jemand sie bestimmte … Ja, wäre Javier doch tot und hätte sich ebenfalls in Erinnerung verwandelt, dachte ich wieder. Das würde mir alle Gewissensnöte ersparen, alle Furcht, alle Zweifel, alle Versuchungen, die Entscheidung, die Verliebtheit und mein Bedürfnis, zu reden. Auch das, was mich jetzt erwartet, wohin ich mich aufmache und was vielleicht so ähnlich sein wird wie eine Eheszene.
»Also, was ist so dringend«, stieß ich aus, als Díaz-Varela die Tür öffnete, ich küsste ihn nicht einmal auf die Wange, grüßte kaum beim Hereingehen, vermied den Blickkontakt, es war mir lieber, zunächst nicht mit ihm in Berührung zu kommen. Wenn ich sofort Rechenschaft von ihm verlangte, würde mir das vielleicht einen kleinen Vorsprung verschaffen, ich wäre ihm gleichsam einen Schritt voraus, hätte Einfluss auf die Situation, wie auch immer sie aussehen mochte: Er hatte sie herbeigeführt, ja fast erzwungen, ich konnte ja nichts wissen. »Ich habe nicht viel Zeit, der Tag war anstrengend. Los, sag schon, was wolltest du mit mir besprechen.«
Er war frisch rasiert und feingemacht, als hätte er nicht schon eine ganze Weile zu Hause gewartet, sogar ohne zu wissen, ob es nicht umsonst war – das schlägt sich immer aufs Äußere, ohne dass man es merkt –, sondern als wäre er im Begriff auszugehen. Er musste gegen die Ungewissheit und Untätigkeit angekämpft haben, indem er ein ums andere Mal seinen Bart bearbeitet, sich gekämmt, zerzaust, mehrmals Hemd und Hose gewechselt, das Sakko an- und ausgezogen und die Wirkung mit oder ohne abgeschätzt hatte, am Ende hatte er es anbehalten, womöglich als Signal, dass dieses Treffen nicht wie die anderen sein, uns nicht zwangsläufig ins Schlafzimmer führen würde, in das wir sonst immer mit vorgespielter Absichtslosigkeit wechselten. Jedenfalls trug er jetzt ein Kleidungsstück mehr als üblich; obwohl man jedes Stück auch ablegen kann, ja nicht einmal muss. Jetzt hob ich doch den Blick, kreuzte den seinen, wie üblich träumerisch oder kurzsichtig, beschwichtigt im Vergleich zu dem bei meinem letzten Besuch, zumindest während der letzten Minuten – als alles schon ins falsche Fahrwasser geraten war –, die er mir die Hand auf die Schulter gelegt und zu verstehen gegeben hatte, dass er mich in den Boden treiben konnte, wenn er nur langsam drückte. Nach all den Tagen wirkte er sehr anziehend auf mich, ein elementarer Teil von mir hatte ihn vermisst – wir vermissen alles, was in unserem Leben auftaucht, selbst das, was keine Zeit hatte, sich niederzulassen; selbst das Schädliche –, mein Blick fuhr sogleich an die übliche Stelle, nie konnte ich das vermeiden. Das ist ein wahrer Fluch, wenn es uns bei jemandem so ergeht. Dass man die Augen nicht abwenden kann: Man fühlt sich wie ferngesteuert, gefügig, es ist fast eine Erniedrigung.
»Nun hab’s nicht so eilig. Ruh dich etwas aus, atme durch, trink ein Gläschen, setz dich. Was ich mit dir zu bereden habe, lässt sich nicht im Stehen und mit drei Sätzen erledigen. Komm, sei geduldig, sei großzügig. Setz dich.«
Das tat ich, aufs Sofa, auf das wir uns immer setzten, wenn wir im Wohnzimmer waren. Aber ich zog mir nicht die Jacke aus, setzte mich auf den Rand, als wäre mein Hiersein weiterhin vorläufig und eine Gefälligkeit. Er machte auf mich einen ruhigen und zugleich konzentrierten Eindruck, wie viele Schauspieler, kurz bevor sie auf die Bühne treten, das heißt, mit dieser künstlichen Ruhe, zu der sie sich zwingen, um nicht nach Hause zu rennen und sich vor den Fernseher zu setzen. Nichts schien mehr übrig vom Gebieterischen, Drängenden des Vormittags, als er mich im Büro angerufen und fast drohend herbeizitiert hatte. Er empfand wohl Befriedigung, Erleichterung, dass ich nun in Reichweite und vor ihm war, dass ich mich gleichsam wieder in seine Hände begeben hatte, nicht nur im übertragenen Sinn.
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