Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
sie alle um den Tisch herumsaßen, aßen, Wein tranken, dem Knistern der Flammen lauschten und einander im Kerzenschein zulächelten. Die beiden Männer sprachen über alte Zeiten, aber Mary hörte ihnen gar nicht genau zu, sondern ließ die Stimmen nur leise an sich vorüberplätschern. Eine sanfte, müde Zufriedenheit erfüllte sie. Seitdem sie dieses Haus betreten hatte, war ihr klar, daß sie richtig gehandelt hatte, als sie Nicolas heiratete. Es war eine einfache, klare
Erkenntnis, die nicht nach Motiven und Zielen fragte. Sie wußte nur, daß es richtig gewesen war.
Mary wachte am nächsten Tag erst mittags auf, denn sie war spät ins Bett gekommen, und die lange Reise zu Pferd steckte ihr noch in allen Knochen. Während sie blinzelnd die Augen öffnete und sich behaglich reckte, roch sie den verführerischen Duft von gebratenem Schinken und frischgebackenem Brot. Sie stand auf, schlang sich eine Decke um die Schultern und tappte noch etwas verschlafen in die Küche hinüber, die schon wieder wunderbar warm war. Nicolas stand dort, fertig angezogen und hellwach, eifrig mit Tellern und Pfannen hantierend. Er lächelte Mary zu.
»Du kommst im richtigen Moment«, sagte er, »gerade wollte ich dich wecken. Das Frühstück ist fertig.«
Er stellte einen Teller mit geröstetem Brot, gebratenen Eiern und Speck vor sie hin.
»Setz dich und iß. Hast du gut geschlafen?«
»Ja, danke.« Von seiner Fürsorglichkeit gerührt, lächelte Mary ebenfalls. Vor den Fenstern tanzten Schneeflocken, der Tag gehörte zu denen, die nicht richtig hell werden, aber das Feuer im Kamin und die Kerzen an den Wänden machten alles warm und sanft. Trotzdem gab sich Mary für einen Augenblick der Vorstellung hin, ihr Leben sei anders verlaufen und sie verbringe diesen Weihnachtstag mit Frederic in Marmalon, ihr Blick gehe statt über graue Dächer über verschneite Wiesen, rauhreifverkrustete kahle Bäume und gefrorene Bäche. Sie schluckte und atmete tief. Nicht, Mary! Nicht an Marmalon denken, vor allem nicht heute, an Weihnachten! Schnell sah sie sich in der Küche um und sagte:
»Weißt du, Nicolas, es gibt etwas, was ich gerne wissen würde. Wir haben diese Wohnung, ein schönes Feuer im Ofen, genug zu essen und zu trinken – ich frage mich, woher kommt das? Wie verdienst du das Geld dafür?«
Wie am Abend zuvor, als sie sich nach den Möbeln erkundigt hatte, schien Nicolas ausweichen zu wollen.
»Ach, hier und da gibt es immer etwas«, meinte er leichthin, »und es reicht schon.«
»Ja, aber ich nehme an, daß du Will regelmäßig Miete bezahlen mußt. Hast du das denn immer, wenn du nur hin und wieder arbeitest? Und was arbeitest du?«
Nicolas seufzte, setzte sich Mary gegenüber an den Tisch und legte beide Hände übereinander, als wolle er sich auf seine nächsten Worte besonders konzentrieren.
»Sieh mal, Mary, ich halte dich für eine vernünftige Frau, und deshalb wirst du auch nicht in Ohnmacht fallen, wenn ich dir jetzt etwas sage. Weißt du, ich bin kein besonders ehrenwerter Mann...« Er mußte lachen, und unwillkürlich stimmte Mary ein.
»Was erwartet mich jetzt? Sag nicht, du bist ein Giftmischer wie Will Shannon!«
»Nein, aber viel besser bin ich auch nicht. Ich bringe niemanden um, aber trotzdem bin ich nicht gerade nett mit den Menschen. Ich bestehle sie, Mary, beraube sie, nehme ihnen Hab und Gut und mache mich damit aus dem Staub. Ich bin ein Taschendieb, ein Betrüger. Einer von denen, die sie eines Tages in Tyburn hängen werden!«
»Oh...«
»Bist du erschrocken?«
»N... nicht sehr. Ein bißchen hab’ ich es geahnt. Offenbar... offenbar lebt man ganz gut davon!«
In Nicolas’ Augen trat die Zärtlichkeit, mit der er Mary immer wieder unerwartet ansah.
»Ich wußte, daß du mich verstehen würdest. Mary de Maurois, du bist vielleicht die einzige Frau in dieser Stadt, die mich versteht. Lord Cavendors kleine Räuberbraut, um ein Haar Mörderin von Lady Winter und jetzt — Nicolas’ Komplizin!«
Mary war bei seinen Worten blaß geworden.
»Nicht«, flüsterte sie, »sprich nicht mehr von Cavendor und Lady Winter!«
Aufmerksam sah er sie an.
»Diese Geschichte damals hat dich mitgenommen, oder?«
»Mitgenommen?« Mary lachte, aber es klang rauh und verzweifelt. »Es verfolgt mich bis heute. Es ist, als sei es mein Schicksal. Beinahe hätte ich eine Frau umgebracht, ich... ich habe geholfen, den Mord an Cavendor zu vertuschen, und jetzt lebe ich mit einem Taschendieb
zusammen, der...
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