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Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Titel: Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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ob er nicht doch etwas preisgeben würde. Es dauerte eine Weile, bis sie vor sich selber zugab, daß sie sich langweilte.
    Es gab so wenig, was sie tun konnte. Natürlich hielt sie die Wohnung sauber, kochte für sich und den alten Will, wenn sie allein war, oder bummelte durch die Stadt, was sie früher so fasziniert hatte. Sie lernte das Südufer kennen, die engen Gassen, in denen rechts und links die Bettler saßen, die zu alt und zu schwach waren, um sich noch bis zum Nordufer zu schleppen, wo das Betteln wenigstens ein klein wenig Sinn gehabt hätte. Sie streckten magere Arme nach Mary aus, klauenähnliche Hände mit gräßlichem Ausschlag daran, hielten in zerfressene Lumpen gehüllte Holzbeine hoch, um zu zeigen, daß sie keine gesunden Gliedmaße mehr besaßen. Zwischen ihnen tobten Kinder herum, kleine bläulich-blasse Geschöpfe mit verfaulten Zähnen im Mund und einem verzweifelten Blick in den Augen, der ebenso viel Hunger wie Haß verriet. Ihre Mütter hockten auf den Stufen vor ihren Häusern, mit schmutzigen, zerrissenen Fetzen bekleidet, mit ungewaschenen Haaren, teilnahmslosen Mienen, abgemagerten oder aufgeschwemmten Leibern, ausgeleierten Brüsten, an denen ihre Säuglinge hingen. Sie keiften, daß es eine Lust war, ihnen zuzuhören, oder verharrten in apathischem Schweigen. Manche riefen auch gehässige Worte hinter Mary her, wenn sie in ihren feinen Kleidern und mit ihrem bunten Hut daherkam, aber Mary kümmerte sich nicht darum, und mit der Zeit gewöhnten sich die Leute an sie, sie gehörte einfach zum Straßenbild.
    Natürlich ging sie auch hinüber zum Nordufer, aber die wilde Jahrmarktsstimmung dort konnte sie nicht mehr faszinieren. Fluchenden Männern und kichernden Frauen zu lauschen, Edelleuten nachzublicken, sich um Flugblätter zu schlagen und im tiefsten Gewühl herumstoßen zu lassen, das alles bedeutete ihr heute nichts mehr. Die Zeiten, da sie wie eine wildernde Katze herumgestreunt war, Sonne auf dem Gesicht, Wind in den Haaren, waren vorbei. Das Leben mußte mehr zu bieten haben, und nun, ein Jahr nach Frederics Tod, erwachte in ihr die Gier, alles zu erleben.
    An einem milden Abend im März saßen sie und Nicolas beim Essen. Nicolas hatte Flugblätter mitgebracht, die von blutigen Aufständen
gegen die Suprematsakte in allen Provinzen berichtete. Er selber erzählte von Hinrichtungen, mit denen die Regierung darauf reagierte.
    »Zwei Bischöfe sollen auf dem Scheiterhaufen gestorben sein«, sagte er, »weil sie den Eid auf den König verweigerten. Und Elizabeth Barton haben sie hingerichtet, die heilige Jungfrau von Canterbury. «
    »Elizabeth Barton«, sagte Mary erschüttert, »ich hätte nie gedacht, daß sie sich an sie wagen.«
    Elizabeth Barton war eine Ordensschwester aus Canterbury, der magische Kräfte nachgesagt wurden, und zu der die Menschen aus dem ganzen Land pilgerten, um Heilung und Trost zu suchen. Sie besaß großen Einfluß auf die Leute und hatte während des ganzen Kirchenstreites und besonders seit Erlaß der Suprematsakte die Lehren der katholischen Kirche gepredigt und das Volk aufgerufen, an seiner Kirche niemals irre zu werden. Vor allem hatte sie den baldigen Sturz des Königs durch seine Untertanen verkündet, was Cromwell endgültig zum Handeln bewog. Elizabeth wurde verhaftet, des Hochverrates angeklagt und zum Tode auf dem Scheiterhaufen verurteilt.
    »Durch das ganze Land«, sagte Nicolas, »geht ein einziger großer Aufschrei. Das Volk wird gewaltsam aus seinem Glauben gerissen, weil ein König es sich in den Kopf gesetzt hat, alleiniger und uneingeschränkter Herrscher zu sein. Bis er das geschafft hat, Mary, wird noch viel Blut fließen!«
    Mary zerknäulte eines der Flugblätter in der Hand. »Und er weiß gar nicht, was er alles damit vernichtet«, flüsterte sie. Nicolas bemerkte den angespannten Zug um ihre Lippen. Er wußte, an wen sie dachte. Leichthin meinte er:
    »Der Abend ist zu schön, wir sollten ihn uns nicht mit dem König verderben. Weißt du, Liebste, in der letzten Zeit gefällst du mir nicht mehr so recht. Du hast fiebrige Augen, und du läufst in der Wohnung herum wie ein eingesperrtes Tier. Ist dir London zu eng?«
    »Ach«, Mary sah hinaus über die Dächer, auf denen eine letzte Abendsonne lag, »nein, ich glaube, das ist es nicht. Es ist nur... ich
habe nichts zu tun. Ich möchte etwas tun, etwas Besonderes, Aufregendes, und ich weiß nicht, was!«
    »Du siehst mich so erwartungsvoll an!«
    »Ja, weil ich dachte...

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