Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
war von einem Moment zum anderen wieder der Mann, den sie kannte, von dem sie wußte, daß er grausam sein konnte und hart. Auf einmal hatte sie Angst.
»Nicolas«, flüsterte sie erschrocken, »es tut mir leid, ich...«
»Was für ein Biest du doch bist«, sagte er leise, »die ganze Zeit hast du an diesen verdammten Belville gedacht, diesen Toten, dessen Lächerlichkeit ich dir nicht mehr vor Augen führen kann, weil er sich ganz und gar und für alle Zeiten aus dem Staub gemacht hat! Und dann hast du Rache genommen dafür, daß du mich geheiratet hast und nicht ihn. Aber du sollst sehen, ich kann mich auch rächen! « Seine Hände umklammerten ihre Handgelenke so heftig, daß sie aufschrie.
»Nicolas! Laß es dir doch erklären!«
»Du sollst verrückt sein nach mir! Anflehen wirst du mich, daß ich das tue, wovon du mich eben abgehalten hast!« Schon war er wieder über ihr, sie versuchte, ihn von sich zu schieben, aber er war zu stark. Seine Finger, seine Lippen streichelten ihren Körper, trafen Stellen, an denen die Haut unter ihrer Berührung zu vibrieren begann, ließen ein Feuer zurück, wo sie gewesen waren und entfachten an tausend Orten neue Flammen. Alle seine Bewegungen waren kraftvoll und behutsam zugleich, seine Stimme sanft und rauh. Mary fühlte seine Muskeln, seinen Schweiß, seinen Atem, und verworren dachte sie: Mein Gott, woher weiß er denn so genau, was er tun muß?
Gleich darauf wußte sie, daß sie ihn wollte. Sie liebte ihn und sie brauchte ihn. Sie fühlte sich von verschwommenen Farben und Geräuschen umgeben, ihr Leib brannte, aber Nicolas entfachte nur immer neue Flammen, lockte sie in jeder Sekunde mit einem neuen Versprechen und zog sich zurück, ohne es erfüllt zu haben. Sie hielt die Arme eng um seinen Hals geschlungen, sie drängte sich ihm entgegen, denn was immer jetzt geschah, es mußte geschehen.
»Nicolas, bitte«, flüsterte sie, »bitte, Liebster, bitte!« Er ließ sie warten, bis sie meinte zu sterben, dann endlich tauchte er in sie ein, und im ersten Augenblick dachte sie entsetzt, es werde sie in Stücke reißen. Sie schrie auf, vor Schmerz erst, dann vor Entzücken, das dem Schrecken übergangslos folgte. Sie paßte sich Nicolas’ Bewegungen an, die sie beide in einen sanften, sachten Rhythmus führten, der sich steigerte, immer schneller und wilder wurde. Mary riß die Augen auf, erkannte beinahe erschrocken die Liebe in Nicolas’ Blick und durchlebte eine wunderbare Ewigkeit lang die Verschmelzung mit Nicolas, aus der sie überwältigt und für alle Zeiten sehnsüchtig wieder erwachte.
Ermattet lag sie in ihrem Kissen, lauschte auf das Pochen ihres Herzens und ließ ihre Lippen leicht auf Nicolas’ Arm ruhen – seine Haut war feucht und schmeckte salzig wie Tränen. Sie suchte sein Gesicht und lächelte.
»Verzeih mir«, sagte sie leise, »ich wußte ja nicht...«
Er strich ihr die wirren Haare aus dem Gesicht.
»In diesen Augenblicken«, flüsterte er, »hast du an mich gedacht
und an niemanden sonst.« Er küßte sie. »Diese Nacht gehört mir.«
Mary erwiderte nichts. In den letzten Augenblicken hatte sie Frederic vergessen, das wußte sie, und Nicolas durfte triumphieren. Sie ärgerte sich nicht darüber, sondern war erstaunlich glücklich. Diese Heirat, die sie nie gewollt hatte, schien ihr mit einem Mal nicht mehr gar so verhängnisvoll wie noch einige Stunden zuvor.
London hatte sich verändert, seitdem Mary die Stadt beinahe zwei Jahre zuvor verlassen hatte. Es war noch immer der gleiche quirlige, tosende, bunte Mittelpunkt Englands, von dem seine Einwohner beharrlich glaubten, er sei auch der Mittelpunkt der Welt. Die Themse war nicht zugefroren in diesem Winter, und überall kreuzten Schiffe und Boote, und die Händler brüllten so laut, daß man sie gar nicht mehr verstehen konnte. In den Straßen herrschte dichtes Gewühl, Kinder tobten herum, Marktfrauen warteten mit blaugefrorenen Lippen und roten Nasen auf Kunden, Edelleute auf hübsch aufgezäumten Pferden ritten durch die Gassen und blickten den jungen Dienstmädchen mit ihren kecken Gesichtern nach.
Es war der 24. Dezember, als Mary und Nicolas auf ihren Pferden nach London kamen. Es wurde schon dunkel, und überall roch es nach Glühwein und Bratäpfeln mit Zimt. Viele Menschen, vor allem die Bettler und Landstreicher, feierten Heiligabend draußen in den Gassen, tanzten miteinander, gaben ihre letzten Farthings für ein Stück Rosinenkuchen aus, schwankten zwischen wilder
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