Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
schöne Kleider tragen, die aber nicht zu auffällig sein durften, um die Kundinnen nicht in den Schatten zu stellen.
Mrs. Harte selbst steckte ihr die Haare auf, weil sie die »unordentlichen Locken« unpassend fand. Im übrigen bekam Mary die Anweisung, stets freundlich zu sein, niemals ausfallend zu werden und Unverschämtheiten mit gleichbleibender Ruhe einzustecken. Mary dachte an das Geld, das sie dafür bekam und biß die Zähne zusammen. Sie fand diese Arbeit gräßlich. Mit einem sittsamen Lächeln auf den Lippen stand sie jeden Morgen in dem kleinen eleganten Laden in der Drury Lane, unter den Augen bläuliche Schatten von der vergangenen ungestümen Liebesnacht in Nicolas’ Armen, im Bauch ihr unaufhaltsam größer werdendes Kind, und begrüßte die vornehmen Damen, die mit hochgereckten Nasen hereingerauscht kamen und sie vollkommen übersahen. Es ödete sie an, den Ladies Stoffe vorzuführen und sich geduldig ihr Nörgeln anzuhören, oder ihnen fertige Kleider anzuziehen, über die die Trägerinnen
in Wut gerieten, weil sie seit der letzten Anprobe noch mehr Fett auf ihren Hüften hatten und sich schon in den Unterrock nur mit äußerster Mühe und schnaufend vor Anstrengung zwängen konnten. Es widerte Mary an, einer feisten älteren Dame wieder und wieder zu versichern, wie fabelhaft das zarte Rosa zu ihrem Teint paßte oder wie hübsch sich die Kette aus Saphiren um ihren schlanken Hals ausnehme. Oft mußte sie dann auch noch die unzähligen erstandenen Päckchen hinaus zu der wartenden Kutsche tragen und sich vom Kutscher Anzüglichkeiten ins Ohr flüstern lassen. Zu allem Überfluß war ihr meist übel, sie fühlte sich müde und gereizt. Sie durfte sich nicht hinsetzen, wenn ihr schwindlig wurde, zudem schimpfte Mrs. Harte mit ihr, weil sie von Tag zu Tag bleicher wurde.
»Ich weiß nicht, was Ihnen fehlt, Mrs. de Maurois«, brummte sie ärgerlich, denn Mary hatte ihrer Schwangerschaft wohlweislich unterschlagen, »aber Sie sehen miserabel aus, das muß ich schon sagen. Sie waren viel hübscher, als Sie hier anfingen. So sind Sie kein großer Gewinn für mich!«
Mary hielt genau zwei Monate aus. Als aber an einem Tag kurz vor Weihnachten eine Kundin sie anschrie, weil sie einen Saum nicht schnell genug umsteckte, eine andere sie »faule Schlampe« nannte, weil sie einen Moment lang erschöpft an der Wand lehnte und ihren ewigen Brechreiz hinunterkämpfte, Mrs. Harte sich darüber mokierte, daß ihre Haare strähnig seien und ihre Taille dicker werde, da reichte es ihr. Sie kam nur noch einmal, am nächsten Tag, und sie rauschte wie ein Wirbelwind hinein, um Mrs. Harte ihre Kündigung entgegenzuschmettern. Nachdem sie die vergangenen Wochen in dezentem Grau oder Blau verbracht hatte, trug sie diesmal ein schreiend buntes Kleid, hatte die Haare offen ums Gesicht fliegen und oben drauf ihren ordinären Hut schweben.
»Ich habe es satt!« schrie sie mit so schriller Stimme, daß Mrs. Harte und drei anwesende Kundinnen erbleichten, weil sie im ersten Augenblick glaubten, es mit einem Fischweib zu tun zu haben, »es reicht mir endgültig, mich von Ihnen ausbeuten zu lassen! Ich bin mir für keine Arbeit zu schade, aber ich bin einfach nicht schwachsinnig genug, um Tag für Tag den fettesten Weibern Londons
zu versichern, sie seien so zart wie ein Reh, und ihnen vorzulügen, sie sähen aus wie dreißig, wenn ich ihnen in Wahrheit nicht einmal die angegebenen vierzig glaube! Und ich habe es satt, von Ihnen schikaniert zu werden, Mrs. Harte! Ich lasse mich von niemandem danach beurteilen, wie blaß ich bin und wie dick, und ob mein Haar glänzt oder nicht. Schon gar nicht von einer so dummen Person wie Ihnen!«
Sie drehte sich auf dem Absatz um und eilte wieder hinaus auf die Straße, wo ihr schwindlig wurde und sie sich auf eine Treppenstufe setzen mußte. Aber sie fühlte sich sehr erleichtert und zufrieden und dachte: Gut gemacht, Mary! Bloß — wo kriege ich jetzt eine neue Arbeit her? Sie gelangte schließlich zu der Erkenntnis, daß es dumm von ihr gewesen war, sich nur nach solchen Stellen umzusehen, von denen sie glaubte, sie seien das richtige für eine Frau. Natürlich, sie war eine Frau, aber sie war gescheiter als mancher Mann, sie konnte lesen, schreiben, französisch sprechen, und sie hatte einen raschen Verstand. Warum sollte sie ihre Gaben nicht einsetzen?
Den restlichen Tag, einen windigen, kalten Dezembertag, verbrachte Mary damit, durch die ganze Stadt zu laufen und alle
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