Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
Kaufleute, Bankiers und Juristen abzuklappern, mit der Frage, ob sie nicht eine tüchtige Person brauchen könnten, die für sie arbeitete. Sie hatte sich vorher zu Hause umgezogen und ordentlich frisiert, um einen guten Eindruck zu machen, aber die Leute, bei denen sie sich vorstellte, musterten sie mißtrauisch und ablehnend. Eine Frau, die glaubte, Geschäfte machen und mit Zahlen umgehen zu können, das hatte noch keiner erlebt.
»Warum versuchen Sie es nicht in einem der vielen netten kleinen Modegeschäfte hier in London? « fragte ein Kaufmann gönnerhaft. »Dort wären Sie sicher gut aufgehoben!«
Mary verließ wortlos das Zimmer.
Am nächsten Tag stieg sie die finstere Treppe zum ersten Stock eines baufälligen Hauses nahe der London Bridge hinauf. Nicolas hatte ihr gesagt, daß dort ein Rechtsanwalt lebe, Bartholomew Bloom, der für seine verdrehte Rechtsanschauung und geschickten Winkelzüge bekannt sein sollte.
»Ein versponnener alter Mann«, hatte er gesagt, »aber blitzgescheit
und vielleicht nicht so borniert wie die anderen. Du solltest hingehen.«
Bartholomew Bloom erinnerte Mary an Will Shannon, denn er wirkte ebenso verwahrlost, grau und gebeugt wie dieser. Seine weißen Haare sträubten sich in alle Himmelsrichtungen, er hustete immer wieder beim Sprechen und bewegte sich nur schlurfend vorwärts. Aber seine Augen blitzten Mary wach und lebendig an.
»Sieh an, eine junge Dame wagt sich in meine Räuberhöhle«, sagte er, nachdem Mary ihr Anliegen vorgebracht hatte, »und sie glaubt, sie könnte dem alten Bartholomew hilfreich sein. Wie ist es, Mrs. de Maurois, verstehen Sie etwas von der Rechtswissenschaft? «
Mary sah sich in dem düsteren Zimmer mit den vielen übereinandergestapelten, staubbedeckten Büchern und wahllos verteilten Papieren um.
»Ich würde sehr bald etwas davon verstehen«, sagte sie fest.
Bloom lächelte.
»Sehr selbstsicher. Nun gut, ich versuche es mit Ihnen. Sie haben ein kluges Gesicht.«
Mary kniete sich mit Eifer in die neue Arbeit. Zunächst staubte sie Blooms Bücher ab, ordnete seine Papiere, stieß auf Berge von unbezahlten Rechnungen und verfaßte Briefe an die Betreffenden, in denen sie baldige Zahlung versprach. Sie schaffte es in kurzer Zeit, Ordnung in das verwahrloste Berufsleben ihres Arbeitgebers zu bringen und war außerdem in der Lage, ihm immer mitzuteilen, mit welchem Fall er sich gerade zu beschäftigen habe und welche Schriftstücke er dazu brauchte. Schon bald wandten sich Klienten, die argwöhnisch das düstere Haus betraten, mit ihren Sorgen lieber an sie, weil sie nicht so zerstreut war wie Mr. Bloom, alles schnell begriff und dafür sorgte, daß der Anwalt alles erfuhr und sich rechtzeitig mit dem neuen Fall befaßte. Aber sie gab sich damit nicht zufrieden. Woche für Woche schleppte sie wahre Bücherberge, die sie von Bloom auslieh, nach Hause in ihre Wohnung und saß jeden Abend bis tief in die Nacht mit zerfurchter Stirn am Küchentisch, las jedes einzelne Wort und kritzelte sich Notizen auf ein Blatt Papier.
Nicolas, der manchmal völlig verschlafen herüberkam, um zu sehen, ob sie immer noch arbeitete, schüttelte den Kopf.
»Du wirst noch die erste weibliche Rechtsgelehrte in England«, sagte er.
Mary wandte ihm ihr blasses, eifriges Gesicht zu.
»Ich habe hier einen wirklich interessanten Fall«, sagte sie, »weißt du, es geht um...«
Nicolas stöhnte.
»Nein, Mary, bitte nicht jetzt. Es ist weit nach Mitternacht. Erzähl es mir morgen früh!«
Mary legte die Feder weg, stand auf und umarmte Nicolas.
»Ich glaube, ich sollte auch schlafen gehen. Aber du kannst dir nicht vorstellen, wie unglaublich es für mich ist, diese Bücher zu lesen und zu verstehen. Ich könnte das alles geradezu trinken. Es ist dasselbe Gefühl wie als Kind, als es mir gelungen war, nach Fernhill zu kommen und Miss Brisbane mir Lesen und Schreiben beibrachte. Und ich bin ganz sicher, es wird die Zeit kommen, da können Frauen in die gleichen Schulen gehen wie Männer, und sie dürfen das gleiche studieren, Rechtswissenschaft, Medizin und was sie wollen! Nur ich lebe leider im falschen Jahrhundert!«
Nicolas sah sie zärtlich an.
»Du wärst ein guter Rechtsanwalt, davon bin ich felsenfest überzeugt! «
»Nun ja, statt dessen werde ich eben Mutter!« Sie verzog ironisch das Gesicht. »Auch eine schöne Aufgabe, nicht? Aber du, du Nicolas, bist ein wunderbar verständnisvoller Mann. Ich kenne keinen, der so ist wie du!«
Nicolas spürte, wie
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