Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
aufwachsen wird!«
»Wen? Du meinst uns? Was stört dich an uns?«
»Ach, Nicolas, es ist... es ist einfach die Art, wie wir leben. Deshalb wollte ich auch eigentlich kein Kind. Wäre ich mit...« Sie brach ab und biß sich auf die Lippen.
Aber Nicolas hatte bereits verstanden.
»Wärest du mit deinem heißgeliebten Frederic verheiratet, dann wünschtest du dir Kinder, das wolltest du doch sagen! Und warum, mein Herz, möchtest du von mir keine?« Er sah verletzt aus und wie stets, wenn er sich getroffen fühlte, nahm sein Gesicht einen ironischen Ausdruck an.
Mary seufzte.
»Nun bist du böse auf mich, dabei wollte ich dich gar nicht kränken. Es geht nicht um dich oder um... um Frederic. Es geht darum, daß ich mich weigere, ein Kind zur Welt zu bringen, für dessen Sicherheit ich nicht die Verantwortung übernehmen kann. Und so wie wir leben, kann ich es nicht.«
»Mary, uns ist nie etwas passiert...«
»Jeden Tag werden Taschendiebe verhaftet, die auch dachten, daß ihnen nie etwas passiert. Unser Leben ist riskant, und das weißt du auch. Bis jetzt konnten wir uns das leisten, weil es nur uns beide etwas anging, wenn wir stets mit dem Kopf in der Schlinge lebten. Aber von nun an stehen wir nicht mehr allein da. Dieses Kind braucht uns, und ich lasse nicht zu, daß es eines Morgens aufwacht,
und wir beide baumeln in Tyburn, und es hat keinen, der für es sorgt!«
Nicolas ließ sich auf einen Stuhl fallen und sah Mary resigniert an.
»Was willst du?«
»Es gibt nur zwei Möglichkeiten«, erwiderte Mary streng, »die eine ist, wir machen weiter wie bisher und verzichten auf Kinder. Die andere ist, wir haben Kinder und führen ein Leben in gesetzlichen Bahnen!«
»Oh...«
»Ich glaube, es bleibt nur die zweite. Ich habe mir dieses Kind nicht gewünscht, aber nun wird es kommen. Ich möchte es nicht töten. Ich werde für es sorgen, so gut ich nur kann. Weißt du, Nicolas«, ihre Stimme wurde weicher, sie kniete neben ihm nieder und legte ihre Arme um seine Beine, »weißt du, ich hatte keine schöne Kindheit, das hab’ ich dir ja erzählt, und schon als kleines Mädchen habe ich mir geschworen, daß meine Kinder ganz anders aufwachsen sollen. Sie sollen sich geliebt fühlen und geborgen, und niemand soll auf sie herabsehen, weil sie arm sind. Am liebsten hätte ich es, wenn dieses Kind so reich und angesehen wäre, wie bei uns in Shadow’s Eyes die Fairchilds, und wenn es groß ist, würde es zu den Bällen der feinsten Familien Englands gehen. Ach, das wäre schön!« Sie lächelte glücklich.
Nicolas, der in ihre verträumten, grau verhangenen Augen sah, strich ihr sanft über die Haare.
»Es wäre schön«, erwiderte er leise, »aber die lassen keinen in ihre erlauchten Kreise hinein, der nicht dafür geboren wurde. Und, zum Teufel«, seine Stimme wurde laut und sein Gesicht gewann die alte Lustigkeit, »ich möchte auch gar nicht zu ihnen gehören! Verlogen sind sie, einer wie der andere, und sie sterben früh an Übersättigung und Langeweile und an ihrer eigenen Bosheit. Ich bleibe lieber ein Straßenräuber, als daß ich... ach, nein«, er unterbrach sich hastig, »damit ist es ja auch vorbei. Nun gut, werden wir zur Abwechslung anständige Menschen. O Gott, was wohl Will Shannon dazu sagen wird?«
Da sie jung und kräftig waren und gesund aussahen, fanden Nicolas und Mary rasch Arbeit. Nicolas half im Hafen beim Aus- und Aufladen von Schiffen, beim Übersetzen von Reisenden auf den Fähren und beim Bau von Booten und Rudern. Es machte ihm nicht den geringsten Spaß, aber er trug es mit Gelassenheit und erklärte Mary immer wieder, das sei wenigstens besser, als an einem Schreibtisch zu sitzen und eine Feder zu schwingen.
»Wenigstens habe ich viele Menschen um mich«, sagte er. Mary argwöhnte, daß er gerade im turbulenten Hafen noch manches Mal in alte Gewohnheiten zurückfiel, aber sie sprach ihren Verdacht nicht aus. Sie mußte Nicolas etwas Zeit lassen. Ein Mann konnte nicht von heute auf morgen sein Leben ändern. Frauen waren da viel geschmeidiger, eine, wie Mary fand, entscheidende Stärke ihres Geschlechts.
Sie selbst arbeitete zunächst bei einer Schneiderin, wo sie mit dem Zuschneiden einfacher Kleider beschäftigt war, in der Hauptsache aber den Kundinnen beim Anprobieren helfen mußte. Mrs. Harte, die Besitzerin, erkannte, daß die junge, hübsche Frau ein gutes Aushängeschild für ihren Laden war, und teilte sie deshalb für die Arbeit im Geschäft ein. Mary mußte
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