Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
anzutreffen. Es ist ja schon ziemlich spät. Ich war bei Ihnen zu Hause, aber nur Ihr Mann war da. Er meinte, ich könnte warten, aber ich wollte Sie allein sprechen, und so erklärte er mir, wo ich Sie finde.«
»Aber woher wußten Sie überhaupt, wo ich wohne?«
»Nun, ich dachte mir, daß Sie wohl... am Südufer wohnen, und ich ging dort in einige Wirtshäuser und fragte nach Mr. und Mrs. de Maurois. Ihr Mann ist sehr bekannt. Man konnte mir sagen, wo er lebt.«
Mary fragte sich überrascht, was wohl der Grund dafür sein mochte, daß sich die feine Anne Brisbane in die verkommenen Spelunken des Südufers wagte, nur um eine Adresse herauszufinden. Offenbar hatte sie ein sehr wichtiges Anliegen. Obwohl sich Mary entsetzlich müde fühlte und am liebsten sofort nach Hause gegangen wäre, wies sie auf einen Sessel.
»Setzen Sie sich, Miss Brisbane. Weshalb sind Sie gekommen?«
Anne setzte sich, die Hände in ihren Pelzmuff vergraben, die Füße sittsam nebeneinander. »Ich möchte gleich zur Sache kommen«, sagte sie, »ich bin hier auf Drängen von Lady Cathleen.«
»Ja?«
»Es ist schon eine Weile her, seit wir Sie zuletzt trafen, und seither macht Mylady sich Vorwürfe, daß wir Sie damals nicht eingeladen haben und auch sonst keine Verbindung zwischen uns besteht.«
Mary mußte lachen. »Und Sie laufen bei Nacht und Nebel und eisiger Kälte durch halb London, nur um mir das zu sagen?«
»Nun ja«, Anne setzte sich aufrechter hin, ihre Miene wurde strenger, »es mag Ihnen seltsam vorkommen, daß eine Dame wie Mylady ihrem einstigen Dienstmädchen so viel Aufmerksamkeit schenkt, aber es gab einmal etwas, was unser aller Verhältnis zueinander ein wenig veränderte...«
Mary konnte sich nicht enthalten, mit einiger Brutalität zu sagen:
»Sie meinen den Mord an Lord Cavendor.«
»Ja.«
»Ich verstehe nicht... das ist lange her, und wir hatten alles geklärt. «
»Ich weiß, daß es lange her ist. Aber es ist geschehen, und manchmal
kommen plötzlich Dinge wieder an die Oberfläche, die man längst verschüttet glaubte.«
»Ich wüßte nicht, wer in dieser Sache noch etwas aufrühren sollte. «
Anne zog ihre Hände aus dem Muff, sie war nervös und ihr wurde warm.
»Da Sie sicher nach wie vor die Ereignisse in der englischen Politik verfolgen, Mrs. de Maurois, stimmen Sie sicher mit mir darin überein, daß uns möglicherweise schon recht bald ein Regierungswechsel bevorsteht. Norfolk und Chapuys intrigieren mit allen Mitteln und Seine Majestät wird bereits schwach... Es ist Ihnen bestimmt auch klar, daß gerade in einer solchen Zeit häufig Ereignisse ausgegraben werden, die bereits vergessen schienen. Irgend jemand will gegen irgend einen anderen zu Felde ziehen und er kommt auf den Einfall, etwas auszubeuten, was Jahre zurückliegt. Lord Cavendor war immerhin Mitglied des Kronrates, damit in die Politik des Landes verwickelt...«
»Ja, aber warum erzählen Sie mir das alles?«
»Wenn die Sache von wem auch immer noch einmal aufgegriffen wird, müssen Mylady und ich sichergehen können, daß, was auch geschieht, alle Beteiligten unserem Versprechen, zu schweigen, treu bleiben. Wir möchten uns vergewissern, daß Sie noch immer auf unserer Seite sind.«
»Ich verstehe, Sie kommen aus Mißtrauen«, entgegnete Mary kalt, »aber Sie irren sich, Miss Brisbane. Ich pflege einmal gegebene Versprechen nicht zu brechen.«
»Sie sind hier sehr plötzlich aufgetaucht und wir bekamen Angst...«
»Angst? Miss Brisbane, ich bin Mittäterin. Ich habe geholfen, die Leiche fortzuschaffen. Mit einer Aussage würde ich mich selbst in Gefahr bringen.«
Anne schwieg. Aber Mary hatte bereits begriffen.
»Sie und Mylady haben offenbar sehr viel über mich nachgedacht und Ihnen ist eines klar geworden: Mary de Maurois, ehemals Mary Askew, war zum Zeitpunkt der Tat ein Kind, das vielleicht gar nicht ganz begriff, wozu man es benutzte...«
Anne gab einen verächtlichen Laut von sich. Mary lachte.
»Ja, Miss Brisbane, Sie und ich wissen, daß das Kind Mary alles ganz genau begriff, aber ein Richter könnte da seine Zweifel haben. Zudem war das Kind Dienstmädchen von Mylady, abhängig von ihrer Gunst, gewöhnt, ihren Befehlen zu gehorchen ... ja, Sie haben recht, es gibt eine ganze Reihe mildernder Umstände für mich. Ich könnte eine Aussage riskieren.«
Annes Lippen waren weiß und schmal geworden. Mary stand auf und stützte sich auf eine Stuhllehne.
»Aber sagen Sie mir einen Grund, Miss Brisbane, weshalb
Weitere Kostenlose Bücher