Die Sternenkrone
hinunter. Es ist ein steiler Wasserfall, der tief unten auf schroffe Felsen trifft, die aus dem wirbelnden Wasser hochragen. Kevins Körper ist nirgends zu sehen.
»Mein Gott ... wir haben ihn in den Tod getrieben«, flüstert June. »Ja. Wir sollten hinunterklettern. Vielleicht finden wir ihn.«
Vorsichtig klettern sie zu einem Felsvorsprung am Fuße des Wasserfalls hinab. Das Wasser sammelt sich hier in einem tiefen Tümpel, an dessen Ufer ringsum Seerosen wachsen. Kevins Körper ist nirgends zu sehen.
»Sieh mal, da ist eine Höhle hinter dem Wasserfall. Meinst du, das Wasser könnte ihn dort hineingespült haben?«
»Schauen wir mal nach! Vorsicht – hier ist es glatt!«
Vorsichtig kriechen sie auf dem Felsvorsprung weiter. Er verbreitert sich hinter dem herabstürzenden Wasserfall und führt in die Höhle hinein. In der Höhle steht das Wasser ganz ruhig, bis auf eine leichte Bewegung weit hinten, wo sich der Felsvorsprung ins Wasser hineinneigt.
»Ooooh!«
Bei dem Felsvorsprung, zwischen den Seerosenpolstern, ist Kevins Kopf und ein Arm aus dem Wasser aufgetaucht. Während George und June noch starren, erscheint ein Tier hinter Kevins Nacken, das einem irdischen Biber ähnelt. Es hat Kevins Hemd mit den Zähnen gepackt und versucht, seinen Körper den Felsvorsprung hinaufzuziehen.
»George! Sieh mal, dieses Tier! Frißt es ihn?«
George wagt einen Schritt vor. Ein besonders langer kräftiger Seerosenstengel befindet sich dicht bei Kevins Körper und neigt sich langsam über seinen Kopf. George ist die metallene Kapuze auf die Schultern geglitten, aber er macht keine Anstalten, sie wieder aufzusetzen.
»Keine Einmischung mehr«, sagt er mit belegter Stimme.
Dem biberartigen Tier ist es gelungen, Kevins Körper den Felsvorsprung hinaufzuzerren. George und June sehen, wie wäßriges Blut aus Kevins zerschmettertem Schädel fließt. Wie mit sich selbst zufrieden hockt sich das Tier weit hinten auf den Felsvorsprung und beginnt sich zu säubern. Die große Seerose hat sich inzwischen ganz geneigt. Sie befindet sich auf der Höhe von Kevins Kopf. Ihre Blätter legen sich auf sein Ohr. Sie sehen, daß es kein Blütenstengel ist, sondern eine große gipfelständige Blattknospe.
Die blütenartigen Blätter beginnen sich zu öffnen, ringeln sich gegen Kevins Wange. In der Stille der Höhle nimmt ein seltsames Schauspiel seinen Lauf.
Die inneren Blätter haben sich jetzt auch geöffnet und etwas freigegeben, das normalerweise nicht zu einer Pflanze gehört – ein kleines, elfenbeinfarbenes rundes Objekt, das offenbar in dem teilungsfähigen Gewebe der Pflanze ihrem Wachstumspunkt entsproßt. Während George und June darauf starren, beginnt das Objekt, sich hin und her zu bewegen, langsam erst, dann schneller und schneller, als probierte es, sich loszureißen. Sie sehen nun die Ranken an der Unterseite, durch die es mit der Pflanze verbunden ist. Es scheinen lange Röhren zu sein, die bis in die Wurzeln der Pflanze und zu den Ablegern reichen. George und June sehen, wie sich zuerst eine Ranke löst, dann die anderen und wie sich ihre Spitzen über Kevins Kopf zu seiner schrecklichen Wunde hin krümmen.
Im flackernden Dämmerlicht der Höhle arbeiten sich die Rankenspitzen durch Kevins blutüberströmtes Haar. Zuerst verschwindet eine, dann die anderen in der Wunde.
June umkrampft Georges Arm, aber er rührt sich nicht.
»Laß, June. Er ist tot.«
Das ballähnliche elfenbeinfarbene Objekt hat sich nun befreit. Von den Ranken über die Pflanze gezogen, nähert es sich Kevins Nacken. Die Blutungen werden geringer, nur noch ein paar Tropfen rinnen aus der Wunde.
»Es schrumpft, George. Es verschwindet in Kevin!«
»Möglich.«
Doch das fremdartige Objekt wird tatsächlich kleiner, als würde es sich selbst durch die Ranken in das Gewebe von Kevins Kopf saugen. June starrt mit weitaufgerissenen Augen. Geistesabwesend schiebt sie ihre Kapuze vom Kopf.
»O George – es sagt etwas! Daß wir – daß wir uns nicht einmischen sollen ...«
George nickt.
Sie beobachten, wie sich die mysteriöse Pflanze langsam in ihren toten Freund hineinarbeitet.
Das bizarre Schauspiel dauert nur einige Augenblicke, aber es kommt ihnen wie Stunden vor. Dann merken sie, daß Kevin sich verändert, als kehre Blut in sein bleiches Antlitz zurück. Plötzlich zuckt ein Augenlid – oder haben sie sich geirrt? Nein, es zuckt erneut. Und jetzt das andere ... Sein Körper regt sich ganz sacht, und sein Kopf mit der fremdartigen
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