Die Sternenkrone
eine schier unmögliche Seitenlage. Das Lenkrad bohrt sich in seinen Bauch, seine Stirn wird in die Windschutzscheibe gepreßt. Und dann gewinnt die Bestie hinter ihm die Oberhand, packt die Kabine, schleudert sie vorwärts, zur Seite und rückwärts und drischt mit einem Donnerschlag aus Bersten, Krachen und Splittern das Bewußtsein aus Hagen heraus.
Dann ist es vorbei. Der Lkw liegt auf der Seite.
Und Hagen lebt noch.
Von unten her hört er ein Knistern. Feuer! Hagen gelingt es, ein Bein abzustützen, und er drückt mit all seiner Kraft nach oben gegen die Kabinentür. Sein anderer Arm, die ganze andere Körperseite scheint zermalmt. Die Tür gibt nach. Hagen schiebt sich hoch, aus der Kabine heraus, und versucht, hinunter zum Erdboden zu schauen. Seine Schmerzen sind unbeschreiblich. Der Anhänger hat sich halb über die Kabine geschoben, ist aufgeschlitzt und aus einem aufgerissenen Tiefkühlcontainer heraus baumelt an einer Stange aufgereihtes, kaltes klitschiges Zeug um Hagens Kopf herum und versperrt ihm die Sicht. Er schlägt danach, um besser sehen zu können.
Von irgendwo her kommt ein Lichtschein. Das muß das Auto sein, das mir gefolgt ist, dämmert es Hagen. Es verlangsamt die Fahrt. Sie müssen ihn doch einfach sehen! Das knisternde Geräusch wird lauter. Er muß herunter, heraus aus der Kabine, egal, wie.
Als er sich durch das kalte Zeug kämpft, gelingt es ihm, es kurz im Scheinwerferlicht des fremden Autos zu sehen, und trotz seiner entsetzlichen Schmerzen hält er für einen Moment inne, dreht sich um und schaut noch einmal genauer hin. Ist er jetzt verrückt geworden? Doch dann erkennt er die geringelten Schwänzchen an den Hinterteilen – Schweineschwänzchen. Tiefgefrorene Ferkel, zartrosa, ausgeweidete, bratfertig zugerichtete Ganzstücke. Er rutscht weiter, kriecht die Kabinenseite entlang und versucht, zum großen Vorderrad zu gelangen. Er erreicht es, holt noch einmal tief Luft. Von hier aus ist der Weg zum Erdboden frei und Hagen läßt sich fallen. Zusammengekrümmt schlägt er unten auf. Der Inhalt der zerbrochenen Ölwanne ergießt sich über seinen Kopf, aber er kann sich noch bewegen.
Durch den Ölschleier erkennt er den grünen Supra, der im Feuerschein angehalten hat. Zwei Männer steigen aus. Hagen kriecht auf sie zu, schleift seine zermalmte Körperseite über den Erdboden. Warum helfen ihm die Männer nicht? Sehen sie nicht, daß der Lkw hinter ihm gleich in die Luft fliegt, begreifen sie nicht, daß sie selbst auch in Gefahr schweben? Hagenkrümmt sich, kriecht, versucht wieder und wieder, die Männer zur Hilfe zu rufen. Sie helfen ihm bestimmt, wenn sie erst einmal begriffen haben, was passiert ist; sie müssen ihm einfach helfen.
Früher an diesem Tag, in der weit entfernten Stadt. Ein junges Mädchen drängt sich mit einen Säugling auf dem Arm durch die wartende Menschenmenge an der Bushaltestelle der Linie 9. Es ist sechzehn und heißt Maylene, ein zierliches, aber doch wohlgebautes Mädchen von sehr dunkler Hautfarbe, das einen müden Eindruck macht. Maylene hat einen schweren Arbeitstag an der Beschwerdeannahme des K-Mart-Einkaufszentrums hinter sich, dazu noch den langen Weg nach Hause, um das Baby zu versorgen und hierher in diesen ihr unbekannten oberen Stadtteil zu bringen.
Der Bus hat wie immer Verspätung. Maylene beobachtet, wie zwei 9er vorbeifahren, ohne anzuhalten.
Nahe dem Straßenrand haben Obdachlose ein Wirrwarr von Verschlägen aus Kistenholz und Kartons errichtet. Den Behörden ist es ziemlich egal; wenn es hier brennt, wartet man meist vergebens auf die Feuerwehr. Maylene tun die Obdachlosen leid, sie fürchtet sich allerdings auch vor ihnen. Daß man tatenlos zusieht, wie ihre paar Habseligkeiten in Flammen aufgehen, findet sie ganz schlimm. Das letzte Mal konnte sich eine alte Frau, die sich hinten in einem der Verschläge befand, nicht mehr rechtzeitig ins Freie retten.
Der Wind ist eisig kalt. Maylene drückt sich in den Eingang des Drogeriemarktes, um Schutz zu suchen. Das hellstrahlende Licht der SCHMERZFREI-Reklame, unter der sie steht, wirft einen goldenen Schein um ihr weiches Haar und auf den Kopf des hellhäutigen Säuglings, dessen feine Härchen sie sorgfältig hochgebürstet und mit einem gelben Bändchen zusammengebunden hat.
Der Leiter des Drogeriemarktes kommt heraus, um die Wartenden zu verscheuchen, doch als er Maylene sieht, verharrt er einen Moment. Etwas an dem Licht, das auf ihre schmalen Schultern fällt, an ihren
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