Die Sternenkrone
eingesunkenen Wangen, die daher rühren, daß sie von ihrem mageren Gehalt, das sie kaum selbst ernährt, nun noch jemand zu ernähren versucht, vielleicht an ihren übergroßen braunen Augen, die eine für die anderen Menschen unsichtbare verrückte Hoffnung zusehen scheinen, ruft eine Erinnerung in ihm wach. Er muß heute abend noch unbedingt die Weihnachtskrippendekoration in Gang Sieben fertig aufbauen.
Der Bus kommt. Er ist überfüllt, aber der Fahrer hält trotzdem. Maylene zwängt sich hinein, wie immer als letzte, das Fahrgeld abgezählt in ihrer kalten Hand. Obwohl das Baby so winzig ist, zerrt sein Gewicht an ihr, und sie lehnt sich erschöpft gegen eine Sitzlehne, die Beine fest in den Boden gestemmt. Sie muß aufpassen. Diesen Weg ist sie noch nie gefahren. In weißes Territorium. Handelt sie richtig? Maylene weiß es nicht, schließt aber für einen Moment die Augen, um ein Stoßgebet zum Himmel zu schicken. Um Glück und Beistand ... Plötzlich hat sie das Gefühl, daß es möglicherweise anmaßend ist, die allmächtige Ruhe eines männlichen Gottes mit einer solch trivialen Angelegenheit wie Maylenes Glück zu stören. Seine Mutter wird sicher mehr Verständnis haben, denkt sie und ändert ihr Gebet.
Die Frau, an deren Sitz sie lehnt, springt plötzlich auf und schiebt sich in Richtung Ausstieg. Noch bevor sich der Mann neben Maylene auf den freigewordenen Platz setzen kann, ergreift eine farbige Frau, die am Fenster sitzt, Maylenes Arm und zieht sie auf den leeren Sitz. Er fühlt sich warm an. Maylene entfährt ein Seufzer der Erleichterung, und sie lächelt unwillkürlich.
Die Frau beugt sich freundlich zu Maylenes Baby, das seine großen braunen Augen öffnet und ihr ein engelhaftes Lächeln schenkt.
»Wie alt ist sie?«
»Zwei Monate.« Maylene hofft, daß die Frau nichts weiter fragt. Diese, als hätte sie den Gedanken gespürt – oder weil sie vielleicht einfach nur zu müde für ein Gespräch ist –, lehnt sich wieder zurück und sagt nur noch beim Aussteigen: »Alles Gute für Sie, mein Kind.«
Der Bus kommt jetzt in eine ungewöhnliche Gegend – eines dieser sauberen, gepflegten kleinen Gewerbegebiete mit niedrigen Bürogebäuden, die entstanden, nachdem die Bagger die dortigen Wohnhäuser abgerissen hatten. Sanierung der Slums, nannten sie das. Maylene faltet den Zettel in ihrer Hand auseinander und schaut angestrengt aus dem Fenster. 7705, 7100 ... der nächste Gebäudekomplex muß es sein, 7025.
Ja, da ist das Schild, Gold auf Weiß gedruckt. Sieht aus wie eine teure Pralinenschachtel. Das Zentrum befindet sich im Erdgeschoß eines kleinen Bürogebäudes. Daneben ist ein großer, halb mit Autos besetzter Parkplatz.
Gerade als Maylene aussteigt und auf die Eingangstüren des Zentrums zugehen will, kreischt das Getriebe eines Lastwagens auf, und eine Männerstimme flucht lautstark. Ein gewaltiger Lastwagen fährt rückwärts aus dem Parkplatz heraus und wendet unbekümmert auf dem Gehweg. Maylene blickt forschend über die Autodächer und entdeckt den Grund für den Ärger des Fahrers. Eine dicke Rohrleitung mit dem Schild: »ACHTUNG! HÖHE 5,20 m!« führt vom zweiten Stock des Bürogebäudes zu der kleinen Fabrik nebenan. Vielleicht Wasserdampf, denkt Maylene geistesabwesend, ihre Gedanken ganz auf das gerichtet, was vor ihr liegt.
Das Baby dicht an sich gedrückt, um es vor dem Wind zu schützen, hastet sie den Weg zum Eingang hoch. Auf den großen Doppeltüren prangt in goldener Schrift: »Kommen Sie zu uns und seien Sie willkommen! Gesegnet sind die, die Leben schenken!« Unten in der Ecke steht: »RECHT AUF LEBEN – Adoptionszentrum Nr. 7.«
Maylene bleibt stehen, das Baby so fest an sich gepreßt, daß es leise murrt. Sie schafft es nicht, hineinzugehen. Doch genau hinter ihr kommt noch eine Mutter. Das verleiht Maylene die Kraft, die Tür zu öffnen und sie aufzuhalten, damit die andere, eine weiße Frau mit verbittertem Gesicht und grauem Haar, die ein mürrisch dreinblickendes stämmiges Kleinkind mit Lokomotivführerkäppchen auf dem Arm hat, ebenfalls eintreten kann. Maylene sieht, daß hinter der Frau noch mehr Leute dem Zentrum zustreben. Die meisten haben Kinder dabei, aber sie erblickt auch ein kinderloses Paar – nein, sogar zwei. Ob das Leute sind, die ein Kind adoptieren wollen? Maylene seufzt tief und betritt das Gebäude, den Gedanken im Hinterkopf, ob wohl eines dieser beiden Paare ihr Baby mitnehmen wird.
Plötzlich ist sie in einem warmen, hellen Raum
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