Die Sternenkrone
Kakao und Tee serviert hat, holt Oberschwester Tilley ihre Unterlagen hervor und präsentiert sie Mrs. Pillbey, der Rechnungsführerin des Komitees, auf einem Clipboard zum Lesen. Die anderen Komitee-Mitglieder wenden sich mit strahlendem Lächeln den Säuglingen und dem Adoptionsvorgang am Schalter zu.
In den Hochstühlen sitzen Babies wie aus einem Werbespot, alle in den weißen Teddy-Anzügen des Zentrums. Ihre Stirnlocken sind mit verschiedenfarbigen Schleifen zusammengebunden. Drei der Kinder sind eindeutig weiß, eines hat dunkle Haut, und ein braunhaariges Baby mit einer prächtigen kornblumenblauen Schleife ist so bleich, daß man seine Rasse überhaupt nicht bestimmen kann.
»Wenn man bedenkt«, sagt Mrs. Dunthorne, die Leiterin des Komitees, »daß alle diese reizenden liebenswerten kleinen Wesen ohne unseren Einsatz umgebracht worden wären! Von entarteten Müttern im Mutterleib getötet!« Ihre Stimme bricht, sie betupft sich die Augen mit einem winzigen Spitzentaschentuch. »Ein neues Gesetz!« sagt sie tief bewegt. »Endlich wird das schreckliche Verbrechen der Abtreibung durch die Verfassung verboten! Wir verdanken Ihnen soviel, Mr. Seymour. Niemand hätte energischer als Sie gegen diese verrohten, herzlosen Menschen vorgehen können.«
Sie niest und geht zum Schalter hinüber, um einen genaueren Blick auf die Babies in den Körbchen zu werfen. Einen Moment später folgt ihr die Frau, die auf der anderen Seite neben Mr. Seymour sitzt.
»Wenn er ihn bloß zur Reinigung gebracht hätte«, flüstert Mrs. Dunthorne ihrer Freundin zu. Sie meint damit Mr. Seymours Trenchcoat, der einen starken Geruch nach Formaldehyd ausströmt. Ihre Freundin nickt und betupft sich ebenfalls die Nase. »Ich glaube, es steht momentan nicht grad zum Besten mit ihm.«
»Aber will er ihn wirklich den ganzen Winter lang tragen? Ich meine, eine noblere Seele als ihn gibt es ja kaum, aber – ei, du süßer kleiner Fratz!« sagt sie rasch, weil eine Schwester vorbeigeht.
Oberschwester Tilley wirft Mr. Seymour ebenfalls einen verstohlenen, neugierigen Blick zu. Lange Zeit hat sie ihn als wütenden Ankläger erlebt, der auf offiziellen Anhörungen mit in Flaschen präparierten drei Monaten alten Föten auftauchte und sie direkt vor die Fernsehkameras hielt, damit man die winzigen Gesichter und Finger sehen konnte, während er dem Publikum die Frage entgegenschleuderte, ob einer unter ihnen wohl imstande sei, solch eine >wunderschöne kleine Person< zu töten oder absichtlich in Stücke zu schneiden.
Im Fernsehen wurde allerdings nicht die letzte Anhörung in Alabama vor der Ratifizierung des Gesetzes übertragen, bei der Mr. Seymour in seiner Erregung die Flaschen so wütend handhabte, daß eine in seiner Manteltasche zerbrach und er zum Korridor stürzte und schrie: »Holt dieses scheußliche Ding aus meiner Tasche! Schafft es mir vom Leibe!«
Mrs. Dunthorne und die anderen schirmten ihn sofort ab, und über den Zwischenfall wurde nie gesprochen. Aber nun scheint es langsam unvermeidbar, daß irgend jemand – vielleicht Mr. George, der neue Mann in der Gruppe – taktvoll die Sprache darauf bringen muß, daß der Mantel unbedingt einer Reinigung bedarf.
Im Augenblick fragt Mr. George gerade Oberschwester Tilley aus. Er scheint sich mehr für Zahlen und Details zu interessieren als Mrs. Pillbee. Oberschwester Tilley hat ein Dauerlächeln aufgesetzt. Sie ist noch nie ganz dahintergekommen, wie weit dem Komitee die ganze Arbeit des Zentrum gewahr ist, die Arbeit, die den Bestand des Zentrums erst garantiert – und deshalb geht sie ganz auf Nummer sicher. Vielleicht leben diese Leute ja in der Illusion, daß die Adoptionsgebühren und freiwilligen Spenden ausreichen.
»Seit Ihrem letzten Besuch bei uns haben einhundertvierundfünfzig Kinder, die für eine Adoption deklariert waren, Adoptiveltern gefunden. Außerdem noch sechs Pflegefälle aus dem Krankenhaus. Wir haben sogar – und ich bin außerordentlich glücklich, Ihnen das mitteilen zu können – Adoptiveltern für ein Kind mit leichtem Down-Syndrom gefunden. Die Mutter warüber die Behinderung ihres Kindes informiert worden, aber es wurde keine Abtreibung erlaubt. Sie unternahm mehrere Versuche, das Kind selbst abzutreiben und verweigerte schließlich die Nahrung, bis sie in Lebensgefahr schwebte und zwangsernährt werden mußte. Das Kind überlebte dies alles und wurde zu uns gebracht. Der Adoptiv-Vater ist ein Kinderpsychologe mit der Auffassung, daß
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