Die Sternenkrone
– stellen Sie sich mal vor! Wie fürchterlich! Wir haben es uns zur Gewohnheit gemacht, diese Kinder sozusagen zu reservieren – zum Beispiel für Leute wie Sie, die besondere Gründe für ihren Wunsch haben. Das Baby, von dem ich rede, ist übrigens ein Mädchen. Wollten Sie lieber ...?«
»O nein! Das ist phantastisch, genau das, was wir uns ...« Lächelnd legt Oberschwester Tilley die Finger an die Lippen. Das Paar verstummt. Einen Augenblick später kommt Miss Fowler mit einem weißen Babykörbchen zurück. Nachdem Oberschwester Tilley es angeschaut und zustimmend genickt hat, wird das Körbchen vor das wartende Paar gestellt. Miss Fowler schiebt den Volant beiseite, um das Kind zu zeigen. Das ungeniert starrende Komitee sieht, wie das Ehepaar den Atem anhält und dann, wild vor sich hinstammelnd, in Entzückensschreie ausbricht. Mrs. Dunthorne und Mrs. Pillbey nähern sich, um in das Körbchen zu schauen.
In eine zentrumseigene weiße Decke gewickelt liegt ein Mädchen mit einer Haut wie Milch und Honig. Seine mit einer kleinen grünen Schleife verzierte Stirnlocke ist goldblond und seine großen Augen sind von einem so reinen Enzianblau, wie die Damen des Komitees es noch nie gesehen haben. Sein Blick hat etwas rührend Neugieriges, und das Lächeln ist absolut bezaubernd.
»Sie ist gerade gefüttert worden«, sagt Oberschwester Tilley zu den entzückenden zukünftigen Eltern. »Deshalb wirkt sie etwas müde.« Der strahlend blaue Blick verschwindet, als dem Mädchen die Augenlider zufallen. Es gähnt wie ein kleines Kätzchen, schaut dann aber wieder zu den übergroßen Gesichtern hoch, die sich ihr liebevoll zuwenden.
Oberschwester Tilley lächelt automatisch, während die Formulare ausgefüllt werden. Die überglücklichen Eltern können kaum den Füllfederhalter in der Hand halten, weil sie ihren neugewonnenen Schatz nicht loslassen wollen. Oberschwester Tilley hat genug Erfahrung mit der Entwicklung von Kindern, und sie hat dieses Mädchen sorgfältig beobachtet. Dabei hat sie etwas entdeckt, das man Trägheit nennen könnte. Vielleicht hat es nichts zu sagen. Doch im tiefsten Innern hat Oberschwester Tilley eine Vorahnung. Diese wundervollen blauen Augen mit ihrem leicht fragenden Blick werden, ebenso wie das Lächeln, die ersten Jahre über ihren Zauber behalten. Und die motorische Entwicklung verläuft möglicherweise ganz normal. Doch dann, vielleicht im Alter von zehn Jahren, wird das Lächeln seinen Zauber verlieren, wenn die kleinen Probleme beim Rechnen und Schreiben nicht verschwinden, sondern immer größer werden. Wenn das Mädchen in die Pubertät kommt, wird sich die Verärgerung der Eltern langsam zur Tragödie auswachsen. Und dann ... Oberschwester Tilley sieht den Aufenthaltsraum einer Anstalt vor sich, wo eine ergrauende blonde Frau unter dem grellen Licht der Neonlampen von einer bunten Illustrierten aufblickt, ein leeres verwundertes Lächeln im Gesicht. Und die glatte pfirsichfarbene Stirn runzelt, weil sie sich wundert, warum die freundlichen Menschen, die ihr beigebracht haben, »Papa« und »Mama« zu ihnen zu sagen, sie nicht mehr besuchen kommen ...
Oberschwester Tilley ruft sich zur Räson. Vielleicht irrt sie sich – sie muß sich einfach irren. Und die Leute wollten unbedingt ein blauäugiges blondes Mädchen. Und das haben sie jetzt, basta. Von der Straße her hört man, wie ein großes teures Auto angelassen wird und leise davonfährt. Oberschwester Tilley weiß, daß zumindest Geld hier keine Rolle spielt.
»Haben Sie viele davon dort hinten versteckt?« will eine der Damen wissen.
»O nein – nur wenn jemand einen außergewöhnlichen Wunsch hat. Halt! Halt, Mr. George! Nicht da hinten rein, bitte!«
Doch flugs ist Mr. George bereits lautlos durch die Türen zum Hinterzimmer verschwunden. Oberschwester Tilley prescht hinterher.
Einen Moment später bringt sie ihn wieder zurück.
»Ich hätte Ihnen das vorher erklären müssen. Wir versuchen, hier so steril wie möglich zu arbeiten. Natürlich geht das nicht immer, aber wir wechseln zum Beispiel die Schuhe, wenn wir vom Schalter kommen. Außerdem war gerade Essenszeit. Wenn ein Baby jetzt plötzlich erschrickt, weil eine fremde Person hereinkommt, fangen die anderen auch sofort an zu brüllen und spucken das ganze Essen wieder aus. Und die Ärzte machen auch gerade Visite. Falls Sie das beobachten möchten ...«
Sie zieht eine Vertikaljalousie an der Rückwand des Raums beiseite und gibt dadurch ein großes
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