Die Sternenkrone
begreifen. In diesem Augenblick erzittert der Vordersitz, weil die Frau sich aufbäumt, um besser sehen zu können.
»Da ist er! Da ist er! Dort drüben ist mein Baby!«
Auf der anderen Straßenseite beugt sich ein leicht sonnengebräuntes Ehepaar über eine weiße Babytragetasche, aus der ein kleines Köpfchen mit einem blauen Stirnband herausschaut.
Die Frau läßt vorsichtig den Motor an.
»Tut mir leid, ihr beiden, das war's dann. O Gott, sie steigen in diesen Mercedes. Hört gut zu, Mädchen, ich geb euch einen Tip. Ihr beide marschiert jetzt gradewegs durch die Seitentür hinein. Ihr schaut rasch und prüfend auf die Babies, die dort präsentiert werden und setzt euch dann einfach hin, als würdet ihr auf jemanden warten. Denkt euch einen Namen aus – Mrs. Howard Jellice zum Beispiel. Erzählt, daß ihr auf sie warten sollt. Ihr könnt dann wenigstens solange drin bleiben, um zu sehen, ob eure Babies heute noch gezeigt werden. Wenn nicht, habt ihr – tut mir leid, daß ich das sagen muß – Pech gehabt, denn es ist schon ziemlich spät am Abend. Ihr könnt ja versuchen, die Kinder auf legalem Weg ausfindig zu machen, vielleicht indem ihr behauptet, es gäbe eine Erbschaft oder ...«
Die Mädchen sind ausgestiegen. Die Frau löst die Handbremse. Ein silberfarbenes Auto fährt hinten aus der Reihe heraus und an ihnen vorbei.
»Macht's gut, Kinder. Viel Glück! Denkt daran –Kopf hoch und reinmarschiert!«
Der silberne Wagen hat die Ausfahrt erreicht. Ihre Wohltäterin fährt langsam hinter ihm her. »Weißt du was?« sagt Neola. »Ich glaube, sie tut nur so, als würde sie das Baby hassen.« Maylene nickt. Der Gedanke an ihr eigenes Unglück überfällt sie wie ein furchtbar eisiger Windstoß.
»Ich hab Angst«, sagt sie.
»Ich auch. Aber wir sind ja zu zweit. Sie können uns höchstens rauswerfen, mehr kann uns nicht passieren. Wir tun ja nicht Verbotenes. Komm jetzt! Wir gehen.«
Sie gehen hinüber und betreten das Gebäude, Auf der Tapete tummeln sich immer noch dieselben Mäuse, die Maylene heute schon einmal gesehen hat. In ihrer Aufregung vergißt sie, welchen Namen sie sagen soll. Doch Oberschwester Tilley spürt ihre Not, und da sie weiß, wie bitter kalt es draußen ist, dürfen die beiden eine Weile bleiben und sogar einen Blick durch das Sichtfenster an der hinteren Wand werfen.
Der Anblick der vielen Kinderbettchen verstört und entmutigt sie. Gerade als sie weggehen wollen, sehen sie, wie eine Schwester etwas vom Boden neben den Bettchen aufhebt – einen prallgefüllten Plastikbeutel. Sie hören, wie sie sagt: »Das hat wohl der arme Kerl aus der Fabrik hier fallenlassen.« Sie hält den Beutel hoch. »Du meine Güte, was ist denn da drin?«
Einer der Männer, die wie Ärzte aussehen, kommt herbei und wirft einen Blick darauf. »Ringelschwänze!« Er schnaubt. »Ringelkringelschwänze!«
Kopfschüttelnd entfernt er sich.
»Igitt!« sagt die Schwester. Sie verschwindet durcheine Seitentür.
Nach einem letzten, verzweifelten Blick wenden sich Maylene und Neola zum Gehen. Sie wissen jetzt, daß in dieser Nacht keine gelben und roten Bändchen darauf warten, präsentiert zu werden.
Hagen liegt auf der Erde, zu Füßen der beiden fremden Männer, die schweigend den umgestürzten Lkw betrachten.
»Hilfe!« Mit seiner unverletzten Hand grapscht er nach einem Bein, versucht sich, daran hochzuziehen. Das knisternde Geräusch hinter ihm hört sich schrecklich an. Was haben die denn nur, denkt er verschwommen. Sehen sie die Gefahr nicht? Wenn der Tank explodiert ...
»Hilfe«, stöhnt er. »Feuer ... der Tank! Zieht mich weg! Bitte, helft mir ...«
Der Mann, dessen Bein er umklammert, hilft ihm nicht, aber er weicht auch nicht zurück. Er sagt etwas zu seinem Gefährten, was Hagen nicht versteht.
Hagen schießt ein Gedanke durch den Kopf. Bestimmt sind das Straßenbanditen, die jetzt zusehen, wie ihre Beute in Flammen aufgeht.
»Fleisch«, keucht er mit ungeheurer Anstrengung. »Nur Fleisch ... Lohnt sich nicht ...« Ein Hustenkrampf schüttelt ihn.
Direkt neben seinem Gesicht sieht er etwas Eigentümliches auf der Erde liegen. Ein blutiges weißes Ringelschwänzchen, aus dessen gefrorenem abgetrennten Ende ein Zwirnsfaden baumelt.
Eine verschwommene Erkenntnis dringt zu Hagen durch. Das Entsetzen packt ihn wie eine riesige Faust im Nacken und schüttelt ihn. Er übergibt sich. Erbrochenes schießt ihm aus Nase und Mund und fließt über die Schuhe des fremden Mannes.
Die Schuhe
Weitere Kostenlose Bücher