Die Sternenkrone
abwarten können, bis das Polizeiauto vorbeigefahren ist. Danach kehren sie einfach gemächlich zur Bundesstraße zurück und fahren dann, so schnell es geht, zu ihren Auftraggebern. Diese müssen rasch darüber informiert werden, daß die erwarteten Vorräte nicht eintreffen werden und daß eine neue Lieferung bestellt werden muß.
Das Auto fährt langsam an, noch ehe der Beifahrer die Tür geschlossen hat. Das Licht der Innenbeleuchtung fällt auf seinen Schuh, an dem ein Klumpen Schmutz klebt, den er übersehen hat.
»Wart mal.« Rasch ist der Klumpen abgestreift – unverbrannte feuchte Sägespäne, die an etwas leuchtend Gelbem, Gezwirbeltem klebt, das scheußlich lebendig aussieht. Der Mann schlägt mit der Stablampe danach. Als es auf dem Boden liegt, schaut er es sorgfältiger an. Es ist nichts als ein schmutziger gelber Stoffrest. Unwichtig. Fluchend schlägt der Mann die Autotür zu. Er beginnt bereits, Gespenster zu sehen.
Und dann sind die beiden verschwunden.
Unwichtig. Außer vielleicht für ein sehr junges, aber doch wohlgebautes dunkelhäutiges Mädchen, das die Gottesmutter um Beistand angefleht hat. Sie war gut beraten, sich an diese Adresse zu wenden. Ihr eigentlicher Gott wird nämlich zusehends vergreister. Er besitzt keine Ähnlichkeit mehr mit dem strahlenden jungen idealistischen Gott, der dereinst die Geldwechsler aus dem Tempel vertrieb. Er ist zu einer stiernackigen, finster blickenden Gottheit geworden, die sich jetzt eher für Wechselkurse, Ökonomie und die Bestimmungen des Internationalen Währungsfonds interessiert und diplomatische Beziehungen zu anderen gleichgesinnten Gottheiten unterhält – kurz gesagt, eine moderne Ausgabe seines Vaters.
Außerdem ist er ziemlich taub geworden, vor allem für die höheren, feineren Stimmen der Frauen und Kinder. Es ist ein Jahrtausend her, daß er einen Vogel hat singen hören. Und seit langem fallen die Sperlinge erfroren zur Erde nieder, ohne daß er darauf achtet.
Seine Mutter hört die Stimmen, und sie schneiden ihr tief ins Herz. Doch es geht ihr wie allen weiblichen Gottheiten, wenn der Stiergott das Zepter übernommen hat. Es verbleibt ihr nur noch wenig Macht. Nur bei ganz kleinen Dingen, wie Maylenes Glück zum Beispiel, vermag sie manchmal noch etwas zu bewirken. Und wer will bestreiten, daß es keine glückliche Fügung ist, durch die ein zerrissenes blutiges gelbes Bändchen auf verschlungenen Pfaden vom Abfallhaufen der Fleischfabrik, wo Maylene es möglicherweise hätte liegen sehen können, Hunderte von Kilometern weit entfernt zu einem brennenden Lastwagen gelangte? Eine glückliche Fügung, damit die Flamme naiver Hoffnung in Maylenes großen braunen Augen nicht erlischt.
Originaltitel: >Morality Meat<
Copyright © 1985 by Alice B. Sheldon
Erstmals veröffentlicht unter dem Pseudonym Raccoona Sheldon in:
>Despatches from the Frontiers of the Female Mind<,
hrsg. von Jen Green & Sarah Lefanu (The Women's Press Ltd., 1985)
Copyright © 1999 der deutschen Übersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag, München
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Christian Lautenschlag
All dies und den Himmel dazu
(All This And Heaven Too)
Es gibt da eine Geschichte, die man kleinen Kindern erzählt, wenn sich die Familie in eiskalten Nächten um den Heizomat versammelt. Und wenn einer der Jungen einmal die fixe Idee erkennen läßt, auf nichts im Leben verzichten zu wollen, dann hört er für gewöhnlich die Worte: »Denk an die Hochzeitsnacht des Kronprinzen!«
Hier ist die Geschichte. Um sie richtig würdigen zu können, ist es unumgänglich, vorerst die Bühne zu betrachten, auf der sie spielt.
Wir haben also ein kleines Land, ein ganz bezauberndes kleines Land namens Ecologia-Bella. Alle Männer dort sind kühn und wohlgewachsen und rücksichtsvoll, alle Frauen hochbegabt, entzückend anzusehen und genau einssechsundfünfzig groß; dies letzteres wurde (im allgemeinen Abstimmungsverfahren) als die Idealgröße für die Liebe festgesetzt. Die Bevölkerung gehört nicht einer einzigen Rasse an, entstammt aber demselben Kulturkreis; jedermann hat sein zufriedenstellendes Plätzchen in diesem Land, und jegliches vermeidbare Ungemach ist per Gesetz verboten.
Die herrliche Landschaft von Ecologia-Bella reicht von schneebedeckten Bergen über üppige Wälder und Seen und blumenübersäte Wiesen bis zu weiten Meeresstränden aus hellem Sand und einem phantastischen Korallenriff, auf dem es sich wunderbar spielen
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