Die Sternseherin
Abendunterhaltung – zumindest, wenn er selbst nicht beteiligt war. Genauso wie übrigens auch sein Getränk. Asher hatte den Kühlschrank mit der weitverbreiteten Blutgruppe 0+ füllen lassen. Der stets latent vorhandene Hunger meldete sich nach den Anstrengungen der letzten Stunden vehement und jedes Blut war ihm recht. Dennoch hätte er sich gern etwas Schmackhafteres gegönnt. »Geiziger Buchhalter!« Er griff den dritten Beutel und trank dieses Mal direkt daraus. Er war nicht erpicht darauf, noch mehr Energie zu verschwenden, indem er eine weitere Reise durch die Zwischenwelt antrat. Aber dieser Ausflug war unumgänglich, er musste seine Entdeckungen weiterleiten. Nicht alle gefundenen Informationen sagten ihm etwas und so war ein Fachmann gefragt, der die Daten auswerten und korrekt interpretieren konnte. Für ihn persönlich allerdings reichte es zu wissen, dass dieser verrückte Professor versuchte, ein Unsterblichkeitsserum für Kreaturen zu schaffen, die nach Julens Auffassung nicht ohne Grund ein vergängliches Dasein fristeten. Man sah doch schon an den geschaffenen Vampiren, wohin es führte, von Natur aus mental instabilen Sterblichen Kräfte und Fähigkeiten zu verleihen, mit denen die meisten von ihnen überfordert waren. Es fiel ihm nicht leicht, seine geschaffenen »Verwandten« als gleichwertig anzuerkennen, wie der Rat es von ihm als Vengador verlangte. Immerhin aber hatten diese den gnadenlosen Gesetzen der Natur zu gehorchen, die sie beim ersten Sonnenstrahl in einen todesähnlichen Schlaf schickte, und ihre Anzahl war begrenzt. Unsterbliche, aber ansonsten allzu menschliche Despoten dagegen hätten ohne diese Einschränkungen das Potential, das sensible Gleichgewicht noch mehr zu stören, als ihre Art es sowieso schon tat. Schenkte er den alten Überlieferungen und diversen Weissagungen Glauben, befand sich die Welt, so wie er sie kannte und liebte, im Sommer eines goldenen Zeitalters, und Julen hatte wahrlich keine Lust, sich in einer neuen Dimension einzurichten, bloß weil die Menschheit größenwahnsinnig geworden war und den Planeten lange vor seiner Zeit vernichtete. Gerne würde er noch ein paar Jahrhunderte hier verbringen, bevor er sich, wie die meisten seiner Vorfahren zuvor, für immer verabschiedete. »Großartig!«, nun plagten ihn auch noch Gedanken über sein Ende. Er warf den leeren Beutel fort, die Luft um ihn herum schimmerte und nach einer unerfreulichen Reise durch die Nebel der Zwischenwelt landete er direkt vor den Füßen des Hüters.
»Unruhige Reise gehabt?«
Julen schüttelte sich. Tausende Wassertropfen glitzerten wie ein Meteoritenschwarm und verschwanden in der Unendlichkeit. »Warum interessierst du dich dafür?«
»Weil die Welt aus den Fugen gerät.«
»Tut sie das nicht täglich?« Julen berichtete von seinen Entdeckungen.
»Du willst mir erzählen, dass wieder einmal ein Sterblicher versucht, das Geheimnis des ewigen Lebens zu lüften, und wo ist die Neuigkeit?«
»Dieser hier scheint Vampirblut als Basis seiner Forschungen zu verwenden.«
Der Hüter winkte ab. »Das wird nicht gelingen. Ist es nicht wunderbar? Die Sterblichen müssen in einem einzigen Dasein nicht nur die gesamte Evolution durchlaufen, sondern auch alle Erfahrungen ihrer Vorfahren erneut machen, um die Fähigkeit zu erwerben, daraus zu lernen.« Er kicherte. »Wenn sie endlich so weit sind, sich weiterentwickeln zu können, ist ihr Leben bereits so gut wie zu Ende.«
»Wäre es so, wie du sagst, gäbe es keinen Fortschritt!«
»Aber ja, drei Schritte vor, zwei zurück, denk doch nur an die Nobelpreisträger ihrer Wissenschaft. Sie alle sind am Ende ihrer Kraft und hätten doch vieles zu geben, hörte die Jugend ihnen zu. So liebe ich unsere sterblichen Freunde!« Er humpelte zum Schreibtisch, kritzelte etwas auf einen Zettel und schob ihn Julen zu, der erleichtert registrierte, dass die Hände seines Gegenübers heute völlig normal aussahen. »Hier findest du einen Fachmann. Er ist sterblich, kooperiert aber mit uns. Liefere ihm alle Daten. Weißt du schon, wo sie unsere verschollenen Streuner versteckt haben?« Als Julen den Kopf schüttelte, sagte der Hüter: »Das wird der Rat nicht gerne hören.« Er griff sich in den Schritt und machte ein paar eindeutige Bewegungen. »Du solltest dich nicht vom niedlichen Arsch einer Fee ablenken lassen. Denk daran, noch bist du kein Vengador!« Er wartete Julens Antwort nicht ab, als habe er seine Gedanken gelesen. »Mein lieber Freund, da
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