Die Sternseherin
Schuluniform hatte sie sich leisten können, musste die abgelegten Sachen älterer Jahrgänge anziehen und kaufte ihre restliche Kleidung ebenfalls nur in Secondhand-Shops. Doch ihre Abschlüsse waren exzellent und seit kurzem arbeitete sie als einzige weibliche Anwältin in einer renommierten Kanzlei. Aber auch hier galt sie als Außenseiterin. Die männlichen Kollegen schätzten zwar ihren Verstand, fürchteten aber gleichzeitig die Konkurrenz. Die Sekretärinnen erkannten nicht, dass Unsicherheit der Grund für ihre manchmal schroffe Art war, und machten Sara ebenfalls das Leben schwer. Und erst in der letzten Woche hatte ein Mandant ihr die Wange getätschelt und gesagt: »Lauf Mädchen, hol mir eine Tasse Tee!« Ihr Chef hatte den Irrtum nicht aufgeklärt, sondern herzlich gelacht wie über einen besonders guten Witz. Sie war folgsam hinausgegangen und anstatt den Auftrag an eine Sekretärin weiterzugeben, die in diesem Moment alle sehr beschäftigt taten und hinter ihrem Rücken feixten, mit dem gewünschten Getränk ins Büro zurückgekehrt. Der Mandant hatte sie keines weiteren Blickes gewürdigt, dennoch fand sie seinen Fall am nächsten Tag zur Vorbereitung auf ihrem Schreibtisch und sie hatte wie immer ihr Bestes getan, um ihn zu gewinnen. Einmal mehr hatte Sara sich für ihre Schwäche gehasst.
Und dann war ihr Vater ermordet worden. Der Gedanke war so voller Seelenschmerz, dass Estelle zusammenzuckte, als sie ihn streifte, und eilig den Rückzug antrat. Trotz alledem, die junge Referendarin wirkte heute entspannter und war vielleicht deshalb weit besser zu lesen als gestern. Die Angst, die Estelle am Vorabend wahrgenommen hatte, schien wie weggewischt. Während Sara, nicht ahnend, dass ihre Gedanken gelesen worden waren, ihre Rechnung an der Rezeption beglich, eilte Estelle zurück in ihr Zimmer, um Mantel und Handtasche zu holen.
Julen lag ausgestreckt auf dem Sofa. Sein Gesicht wirkte im Schlaf beinahe verletzlich. Niemand wäre bei diesem Anblick auf die Idee gekommen, er könnte etwas anderes sein als ein junger, lebenslustiger Mann, der sich vielleicht gerade von einem nächtlichen Abenteuer erholte. Sie bückte sich, um die Wolldecke zurechtzuziehen, die halb herabgerutscht war, und wich Sekunden später erschrocken zurück. Seine Hand war hervorgeschnellt und hatte sie gepackt, bevor er noch die Augen geöffnet hatte. Julen stieß ein kehliges Fauchen aus, dann erkannte er Estelle in letzter Sekunde und ließ sie frei. Er sank auf sein unbequemes Lager zurück. »Komm niemals einem ruhenden Vampir zu nahe, wenn dir dein Leben lieb ist, mein Augenstern«, war sein schlaftrunkener Rat. Dann blinzelte er und sah den Mantel in ihrer Hand. »Wohin willst du?«
»Die Sonne scheint, ich möchte ein wenig spazieren gehen«, schwindelte sie. »Es dauert nicht lange!«
»Sei wieder hier, bevor es dunkel wird, hörst du?« Julen warf ihr eine Kusshand zu und schlief schon in der Bewegung wieder ein. Estelle schlich sich so leise wie möglich hinaus und war froh, dass nicht auch noch Asher auftauchte. Sie ahnte, dass er nicht so leicht zu täuschen wäre.
Es war ein eisiger Tag, aber die Winterlandschaft, durch die der Zug Richtung London fuhr, entschädigte für die klammen Finger der Passagiere. Alles da draußen war von einer dicken Schicht Raureif wie mit Puderzucker überzogen und die Bäume reckten Zweige in den tiefblauen Himmel, an denen Kristalle wie kleine Eisbärte in der Sonne glitzerten. Estelle konnte sich gar nicht sattsehen und empfand Mitleid mit ihren vampirischen Begleitern und ganz besonders mit ihrer Schwester Nuriya, die einen solchen wunderbaren Anblick nie mehr würden genießen können. Als sie London näherkamen, verschwanden die winterlichen Spuren und an ihre Stelle traten die typischen Rückansichten der Millionenstadt. In einem Meer aus rußigen Ziegelmauern flatterte vergessene Wäsche, blinde Fenster verwehrten den Einblick in graue Wohnungen und zugemüllte, winzige Gärten ohne eine Spur von Grün zeigten ein Bild, wie es nicht weniger einladend hätte sein können. Der Zug passierte rumpelnd Abzweigungen und Weichen, dass es krachte und Estelle mehr als einmal glaubte, er würde gleich aus den Schienen springen, bevor er schließlich in King's Cross einfuhr und mit kreischenden Bremsen in der Bahnhofshalle zum Halten kam. Die beiden Frauen stiegen aus. Estelle folgte Sara den Bahnsteig entlang und sah sich sehnsüchtig nach den Hinweisschildern zur britischen
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