Die Sternseherin
Nationalbibliothek um, die wenige Hundert Meter entfernt lag und in der gut achtzehn Millionen Bände nur auf sie zu warten schienen. Wie gerne hätte sie den Tag in dem gläsernen Turm verbracht, in dem sich die Sammlung König Georges III. befand, der sich nach seiner Thronbesteigung entschlossen hatte, eine einzigartige königliche Bibliothek einzurichten. Aber dieses Vergnügen musste warten, denn schon eilten sie zur U-Bahn hinab. Welch ein Unterschied zum beschaulichen Cambridge. Menschen schoben sich an ihnen vorbei. Immer mit einer Entschuldigung auf den Lippen, aber deshalb nicht weniger ungeduldig. Geschäftsreisende, Touristen und Müßiggänger bevölkerten die Halle und eine Vielzahl verschiedener Sprachen surrte durch die Luft. Sie begann sich zu fragen, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, Sara in die Metropole zu begleiten. In der Gesellschaft der beiden Vampire hatte sie sich beschützt gefühlt und, wie sie erst jetzt erkannte, sogar sicher. An Ashers Seite war selbst die Furcht vor den ständig im Hintergrund lauernden Anfällen fast vergessen. Doch nun kämpfte sie gegen eine aufsteigende Panik an, dass ihr ganz schwindelig wurde. Sie biss die Zähne zusammen, versuchte sich darauf zu konzentrieren, an einem der Automaten ein Tagesticket zu kaufen. Nervös drückte sie die Knöpfe, aber das Gerät verweigerte seinen Dienst, bis Sara helfend einschritt und Estelle schließlich doch ihre Fahrkarte in der Hand hielt. Anschließend folgte sie dem endlosen Strom der Menschen die Stufen hinab zur Circle Line und spürte den herannahenden Zug lange, bevor die Lichter in der dunklen Tunnelröhre auftauchten.
Ihre Begleiterin sah sie beunruhigt an und raunte ihr zu: »Ich hasse diese Menschenansammlungen auch!« Sie versuchte ungeschickt, ihr einige beruhigende Bilder zu senden. Spätestens hier war Estelle klar, dass sie sich nicht geirrte hatte: Sara war eine Feentochter. Die junge Frau besaß zwar das Bedürfnis zu helfen, hatte aber überhaupt keine Ahnung, wie sie das anstellen sollte und welchen Einfluss ihre Abstammung auf ihr zukünftiges Leben haben konnte.
An der Station Temple stiegen die beiden Frauen aus, passten sich dem eiligen Schritt der Mitreisenden an, deren blank geputzte Schuhe über den schwarzen Boden und vorbei an stählernen Säulen eilten, bis sie die Aufgänge endlich wieder ins Tageslicht entließen. Estelle spürte Saras Unsicherheit zurückkehren, als sie gemeinsam die Kanzlei betraten. Erhabene Größe und Eleganz begrüßte sie, da konnte man schon nervös werden. Aber dies war Saras Arbeitsplatz und sie hätte nicht so heftig reagieren dürfen, es sei denn, sie war hier unglücklich. Estelle sandte ihre Gedanken aus und tat, was an guten Tagen zu ihren Stärken gehörte, nämlich in ihren Mitmenschen das Gefühl von Ruhe und Zuversicht auszulösen. Es gelang und gemeinsam stiegen sie die geschwungenen Treppen in die erste Etage hinauf, in der sich das Büro der Anwältin befand. In dem winzigen Raum stapelten sich Berge von Akten auf dem Schreibtisch. Sara blieb stehen und flüsterte: »Oh nein!«
»Stimmt etwas nicht?«
»Doch, doch! Ich schätze, so etwas ist normal für einen Anfänger wie mich. Sie legen mir ihre Fälle zur Analyse vor, um mich zu testen.«
Estelle zeigte auf den zweiten Schreibtisch, der völlig leer war. »Dann arbeitest du mit einem erfahrenen Kollegen zusammen?«
»James? Nein, er hat mit mir hier angefangen. Der Arme hat es nicht leicht. Sein Vater ist kürzlich gestorben und er muss sich derzeit in die Regularien des House of Lords einarbeiten.«
Estelle sah, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg, und wusste sofort, Sara mochte diesen James mehr, als sie es zugeben wollte. In diesem Moment trat der frischgebackene Lord durch die Tür und betrachtete ihre verlegen lächelnde Begleiterin wie ein widerliches Insekt. Er wollte bereits seinen Mund öffnen, zweifellos um eine Gemeinheit loszuwerden, da bemerkte er Estelle und zeigte zwischen schmalen Lippen eine Reihe strahlend weißer Zähne. »Wir haben Besuch?«
Sie erwiderte seine Begrüßung, bevor ihre neue Freundin etwas sagen konnte, und ging auf ihn zu. Seine ausgestreckte Hand berührte sie nur mit den Fingerspitzen. »Wie nett, Sie kennenzulernen, Herr ...?« Bevor er antworten konnte, fuhr sie fort: »Meine Freundin hat mir schon viel von Ihnen erzählt.«
»Tatsächlich?« Er besaß immerhin so viel Anstand, kurz beiseite zu blicken, als erwarte er Schelte für sein Verhalten.
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