Die Sternseherin
war ein eifersüchtiger Vampir, während sie versuchte, einen perfekten Tag zu genießen.
Das Mandarin Oriental, ein Hotel, das für seinen hervorragenden Nachmittagstee bekannt war, befand sich nur ein paar Schritte die Straße hinunter und die beiden Frauen genossen den aufmerksamen Service, während sie dicke, geschlagene Sahne und köstliche Erdbeermarmelade auf ihre Scones luden und anschließend noch eine beachtliche Anzahl leckerer Sandwiches mit Tee herunterspülten.
»Wir hätten die Kleider eine Nummer größer nehmen sollen«, lachte Estelle schließlich und wischte sich etwas Sahne aus dem Mundwinkel. »Ich hatte keine Ahnung, dass Einkaufen so hungrig macht! Aber nun muss ich allmählich ans Aufbrechen denken.«
»Ich begleite dich noch zum Bahnhof.«
Estelle wollte widersprechen.
»Das ist das Mindeste, was ich tun kann! Estelle, solltest du jemals eine Anwältin benötigen, ich bin immer für dich da!«
»Danke sehr! Man kann nie wissen, wann ein Rechtsbeistand vonnöten ist.«
Sie verließen das Hotel und überquerten in einem Pulk von Menschen die Straße. An dieses Feierabendchaos hatte Estelle überhaupt nicht gedacht. Während sie sich von der Menge mitnehmen ließen, formte sie die Hoffnung auf einen glimpflichen Ausgang ihres Abenteuers zu einem lautlosen Mantra: Lass mich jetzt bloß keinen Anfall bekommen! Alles ging gut.
Die U-Bahnen verkehrten im Minutentakt und sie mussten nicht lange auf dem überfüllten Bahnsteig warten. Ziemlich überwältigt ließ sie sich auf einen unverhofft frei gewordenen Platz fallen. Es war vermutlich der einzige im gesamten Zug. Aber vor Schreck wäre sie im selben Moment beinahe wieder aufgesprungen, denn der ihr gegenübersitzende Mann starrte sie nicht nur aus schwarz geschminkten Augen ohne zu blinzeln an, ihn umgab vielmehr eine finstere Aura, wie sie sie selten zuvor gespürt hatte. An den Türen standen offenbar seine Freunde. Jedenfalls tauschte er einen kurzen Blick mit ihnen, der ihr nicht entging. Die jungen Männer warfen allen Mitreisenden prüfende Blicke zu, doch Estelle und Sara hatten ganz offensichtlich ihr Interesse geweckt. Ihr Gothic-Styling bereitete ihr keine Sorge, schließlich war sie selbst gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester häufig in den einschlägigen Clubs ihrer Heimatstadt unterwegs gewesen und wusste, dass hinter einem exotischen Äußeren oft die kreativsten Köpfe zu finden waren. Ihr Gegenüber aber machte sie nervös und sie senkte ihren Blick, um möglichst keine Aufmerksamkeit zu erregen. Ein paar Stationen später sah sie wieder auf. Er saß immer noch dort. Ebenso wie die ältere Frau neben ihm, die sich die ganze Zeit leise mit ihrer Handtasche unterhielt. Sie musste lächeln, aber unwillkürlich kehrte ihr Blick zurück zu dem Mann. Irgendetwas stimmte mit seinen Augen nicht, und sie hoffte, dass deren violetter Schimmer speziellen Kontaktlinsen zu verdanken war. Goth oder Vamp, die Frage schien durchaus berechtigt, um diese Zeit konnte es sowohl ein Vampir als auch ein Sterblicher sein, der sich viel Mühe mit seinem Styling gegeben hatte. Verdächtig spitze Zähne blitzten, als er jetzt ihr neugieriges Interesse mit einem Grinsen quittierte. »Also doch ein Sterblicher«, dachte sie erleichtert, niemand aus der magischen Welt, der noch ganz bei Sinnen war, würde sich in aller Öffentlichkeit derart exponieren. Dann fielen ihr die drei Vampire ein, die sie in Dublin angegriffen hatten. Sie waren ganz bestimmt weit entfernt von jeder Form der Zurückhaltung gewesen, dafür hatten zwei von ihnen mit dem Leben bezahlt. Jetzt allerdings war kein Julen in der Nähe, um sie zu beschützen. Estelle beschloss, ganz sicher zu gehen, und begann, behutsam die Gedanken ihres Gegenübers zu ertasten. Der Schock kam nach Sekunden. Der Mann verfügte über solide Schutzschilde, die auf ihren halbherzigen Versuch sofort reagierten und ihr nichts als stahlgraue Wände zeigten. Für einen kurzen Augenblick glaubte sie jedoch, ein Echo ihres eigenen Erschreckens in seinem Gesicht zu lesen. Sie hätte sich ohrfeigen können. Jetzt wusste er, dass sie ihn erkannt hatte. Wegsehen hatte wenig Sinn, schon spürte Estelle, wie er seinerseits versuchte, mehr über sie herauszufinden. Erleichtert stellte sie fest, dass sie ihm durchaus ebenbürtig war. Konnte er tatsächlich einer von diesen geschaffenen – wie hatte Julen sie noch einmal genannt – »Streunern« sein, die es darauf anlegten, den Rat herauszufordern? Sie hatte
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