Die Sternseherin
keine Lust, diese Frage persönlich zu klären, und zerrte die verstörte Sara an der nächsten Station aus der U-Bahn, bevor sich die Türen wieder schließen konnten. Der »Vampir« schien es nicht geschafft zu haben. Vielleicht war er ja doch ein ganz normaler Sterblicher gewesen. Touristen und elegant gekleidete Theaterbesucher schoben die beiden Frauen in Richtung Ausgang.
»Was ist los?«, wollte Sara wissen. »Ist dir nicht gut?«
Estelle öffnete ihren Mund, um irgendeine Ausrede vorzubringen, da sah sie ihn. Eindeutig der Vampir aus dem Zug und – er war nicht alleine!
»Frag jetzt nicht, lauf einfach nur, wir werden verfolgt!« Estelle packte Sara am Ärmel und rannte los. Dass dies nicht so einfach war, wie sie gedacht hatte, wurde ihr schnell klar. Die Menschen bewegten sich wie ein zäher Strom aus Sirup und jeder Versuch, sich an ihnen vorbeizudrängen, schien aussichtslos. Sie kämpften sich trotzdem verbissen voran, denn ein Blick über die Schulter zeigte, dass die Vampire erfolgreicher waren. Sie näherten sich wie eine Schar dunkler Vögel, die Sterblichen schienen ihnen sogar bereitwillig den Vortritt zu lassen. Estelles Atem ging schneller und sie dachte daran, wie dringlich Julen sie gebeten hatte, vor Einbruch der Dunkelheit zurück zu sein. Jetzt bereute sie es, seine Warnung so leichtfertig ignoriert zu haben, und sandte ein Stoßgebet an die Götter, dass ihre Verantwortungslosigkeit wenigstens Sara keinen Schaden zufügen mochte. Gerade als sie die Aufzüge der U-Bahn-Station erreicht hatten, schlossen sich alle Türen gleichzeitig. Panisch sah sie sich um und erkannte die schnell näher kommenden Verfolger. Der Vampir grinste siegessicher und das Herz blieb ihr fast stehen. »Los, die Treppen!«, keuchte sie und schob ihre Begleiterin in eine neue Richtung. So schnell sie konnten, rannten beide Seite an Seite die ausgetretenen Stufen hinauf. Auf einmal rutschte Estelle aus. Gerade noch gelang es ihr, sich abzustützen. Ihre Handflächen brannten und sie hatte sich das Schienbein angeschlagen. Mit zusammengebissenen Zähnen humpelte sie weiter, drängte sich rücksichtslos an protestierenden Menschen vorbei. Es half alles nichts. Schon glaubte sie, den fauligen Atem der Verfolger in ihrem Nacken zu spüren, da griff plötzlich jemand ihren Arm. Dunkelheit umgab sie, ihr Schrei wurde von einer rauen Hand erstickt. »Sei still!«
Blind und taub für ihre Umgebung spürte sie, wie sich Zeit und Raum veränderten. Als das Rauschen in ihren Ohren nachließ, öffnete sie die Augen. Sie stand in einem kaum beleuchteten Hinterhof. Immerhin hatte sich der magische Schleier, denn das war es, was sie eingehüllt und ihr die Sicht genommen hatte, gehoben. Irgendwo hörte sie Stimmen, Menschen unterhielten sich in einer fremden Sprache, Geschirr klapperte, es roch nach exotischen Currymischungen und – weit weniger ausgefallen – nach Müll. Eine Durchfahrt, die so schmal war, dass sie sich fragte, wie der Jeep hier hereingelangen konnte, filterte die Straßengeräusche. Im Rücken spürte sie das kalte Blech des Autos, als ihr Kidnapper sich zu ihr herabbeugte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.
»Asher!«, hauchte sie in seinen Mund und erwiderte seinen rauen Kuss ebenso leidenschaftlich. Erst als sie sich an den gespannten Körper schmiegte, der ihr Schutz und Sicherheit versprach, wurden seine Lippen weicher. Schließlich hob er seinen Kopf und ein wachsamer Blick ersetzte das unheilvolle Leuchten aus seinen Augen. Gleich darauf kam Julen um die Ecke, er trug Sara und blickte grimmig. »Die Streuner haben sie verletzt!«
Estelle wollte ihnen entgegenlaufen, doch Asher hielt sie zurück. »Wenn sie blutet, haben die Angreifer ihre Witterung aufgenommen und sind euch gefolgt.«
Er hatte seinen Satz noch nicht beendet, da tauchten auch schon vier Gestalten im Tordurchgang auf. Die schwarzen Mäntel, das lange Haar, sie wirkten wie die Figuren aus einem blutrünstigen Roadmovie, das sie vor einigen Jahren im Kino gesehen hatte.
»Hey«, rief einer von ihnen, und sie erkannte den Goth, der ihr gegenübergesessen hatte, »die Mäuse gehören uns! Wir teilen nicht.«
Julen, pass auf die Frauen auf! Asher schob Estelle hinter sich. Geh und hilf ihm, eure Präsenz zu maskieren! Seine Stimme in ihrem Kopf gestattete keinen Widerspruch und sie wunderte sich nicht zum ersten Mal, wie viel Autorität er besaß, um einen erfahrenen Kämpfer wie Julen nicht nur einfach so herumkommandieren zu können,
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