Die Sternseherin
dich!«
Sofort fiel alle Anspannung von ihr ab. »Gestaltwandler?«, fragte sie mit unsicherer Stimme.
»Hier? Unwahrscheinlich.«
»Astralprojektion?«
»Wovon redest du?«
Sie zeigte anklagend auf Julen, der völlig konsterniert vor ihr stand. »Er war eben dort draußen im Gang und hat uns dumm angequatscht!«
»Du musst dich irren, er war die ganze Zeit hier bei mir«, fragend wandte sich Asher um und sah statt Julen nur noch eine halb geöffnete Tür, eine aufgebrachte Fee und die weinende Sara. Er fuhr sich über seine Augen, so als wolle er einen unangenehmen Traum wegwischen. »Erzähl mir genau, was passiert ist.«
Estelle nahm nur undeutlich wahr, wie sie auf einen Stuhl gedrückt wurde und ihr jemand das Weinglas in die Hand gab. Sie trank einen zu großen Schluck und begann zu husten. Als sie sich wieder gefangen hatte, erzählte sie mit stockender Stimme: »Wir saßen in einem dunklen Gang, da tauchte er plötzlich auf und fragte: ›Was haben wir denn da?‹ Genau das waren seine Worte, als habe er uns noch nie im Leben gesehen. Oh mein Gott, glaubst du, das war er gar nicht?«
»Gut möglich.« Asher blickte nachdenklich.
»Gunnar!« Sie erhob sich halb von ihrem Stuhl.
»Was weißt du darüber?«
Sie ließ sich zurücksinken, ihre Finger trommelten leise auf dem Tisch. »Sein Bruder. Er ist nach seiner Transformation in die Zwischenwelt gegangen und seitdem sucht Julen nach einer Möglichkeit, ihn wieder zurückzuholen.«
»Das Grimoire!«
»Genau.« Estelles Hände wurden ruhig.
Asher blickte Sara, die ihre Konversation staunend verfolgte, nicht einmal an. »Schlaf!« Dieses Wort genügte, um sie mit geschlossenen Augen zurücksinken zu lassen.
»Was geht hier vor, Asher?«
»Ich habe keine Ahnung!« Er klang ehrlich verärgert. Offenbar gehörte Ratlosigkeit nicht zu seinen üblichen Gefühlszuständen. »Ah, Nell! Gut, dass du da bist!« Asher wirkte nicht wirklich erfreut. »Wann genau hast du Julen das letzte Mal getroffen?«
Sie reagierte prompt auf seinen feindseligen Ton. »Ich wüsste nicht, was dich das angeht!«
»Bitte, es ist wichtig!«
»Also gut. Das war etwa vor drei Wochen. Er ist plötzlich in London aufgetaucht und ein Gast, offenbar ein Freund von früher, brachte ihn mit. Anfangs kam er mir etwas verwirrt vor, aber das legte sich schnell.« Sie erlaubte sich ein kleines Lächeln.
»Verwirrt?«
»Ist das hier eine offizielle Befragung?« Sie verschränkte die Arme, was ihre Brust noch mehr zur Geltung brachte.
»Bitte, Nell!«
»Also gut, er schien wenig über unsere Gepflogenheiten zu wissen, aber wie gesagt, das war nur in den ersten Tagen. Was stimmt mit ihm nicht?«
»Ich denke, er ist nicht derjenige, der er zu sein vorgibt.«
»Jemanden wie mich täuscht niemand ungestraft! Was denkt sich dieser Hurensohn?« Ihre Stimme klang nun überhaupt nicht mehr kultiviert. Kaum aber waren die letzten Worte verklungen, begann sie zu lachen. »Was rede ich da? Nun mal im Ernst, was geht hier vor?«
»Wir hatten Probleme mit Streunern, bevor wir hierher kamen, und ich bin ziemlich sicher, dass Urian hinter diesen Aufständen steckt.«
»Der Dämon ein Rebell?« Sie klang skeptisch.
»Er selbst ist sicher kein typischer Insurgent, aber die Streuner, die ihm folgen, sind es sehr wohl.«
»Was weißt du über Urian?« Nell war jetzt ganz Geschäftsfrau. »Als Repräsentantin des Rats bin ich verantwortlich für die Londoner Gemeinde – und für unsere Gäste. Ich bin dem Dämon noch nie begegnet.«
»Das ist kein Verlust, glaube mir. Ich weiß leider auch nicht viel mehr, als schon immer allgemein bekannt war. Offenbar ist er neuerdings auch noch in einen hässlichen Handel mit jungen Vampiren verwickelt, und wenn ich mich nicht irre, lässt er sich von ihnen als ›Maighstir‹ huldigen.«
»Meister?«, sie lachte schrill. »Er scheint einen Hang zur Selbstüberschätzung zu haben.«
»Ihn zu unterschätzen, wäre ein großer Fehler.« Asher schien einen Moment zu überlegen. »Du weißt nicht, dass Julen einen Zwillingsbruder hatte, der etwa zum Zeitpunkt seiner Transformation verschwunden ist? Der Junge hieß ...«, Asher korrigierte sich, »er heißt Gunnar und ich bin nicht sicher, warum er sich hier als Julen eingeführt hat.«
»Tatsächlich? Was für ein Durcheinander. Wenn dem wirklich so sein sollte, dann kann ich nur sagen, die Brüder ähneln sich in mehr als einer Hinsicht.« Ein träumerisches Lächeln ließ ihre Züge jung und weich
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